Überwintern in der Antarktis

29. März 2019

Ein Jahr lang lebt und forscht der Mainzer Physiker Dr. Benjamin Eberhardt am Südpol. Dort wacht er gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. Kathrin Mallot über das Neutrino-Teleskop IceCube. Es wird von einem internationalen Konsortium betrieben, an dem die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) maßgeblich beteiligt ist.

Der Satellit steht günstig. Für eine Stunde kann Dr. Benjamin Eberhardt nun mit seiner Heimatstadt Mainz telefonieren. Die Verbindung ist erstaunlich gut. Zwar wird seine Stimme ab und an von einer kurzen Störung zerhackt, doch schnell klingt der 34-Jährige wieder glasklar – und überhaupt nicht so, als würde er gerade in der internationalen Amundsen-Scott-Forschungsstation sitzen, gerade mal 50 Meter vom geografischen Südpol entfernt.

Im Moment scheint in der Antarktis 24 Stunden am Tag die Sonne. "Aber sie steht schon ziemlich niedrig", erzählt Eberhardt, "die Schatten werden lang." Bald wird sie für ein halbes Jahr hinterm Horizont verschwinden. "Das letzte Versorgungsflugzeug ist vor Kurzem gestartet, nun bauen wir die Landebahn ab." Das Thermometer zeigt minus 45 Grad Celsius. Die Temperaturen werden noch ein ganzes Stück weiter sinken: Minus 82 Grad Celsius wurden hier bereits gemessen.

Mit dem Eiswürfel auf Neutrino-Jagd

"Das wirkliche Abenteuer beginnt gerade“, meldet sich Eberhardts Berliner Kollegin Dr. Kathrin Mallot zu Wort. Winterover am Südpol: Das wollen die beiden erleben. "Wir sind gespannt, was in den nächsten sechs Monaten passiert." Von der 150-köpfigen Besatzung bleiben gerade mal 42. Diese 42 aber rücken eng zusammen. "Wir planen ein ausgedehntes Programm", erzählt Mallot. "Einige meinten, wir könnten ihnen vielleicht Deutsch beibringen. Ich selbst möchte Gitarre lernen." – "Und gerade läuft ein 1-Rad-Kurs an", ergänzt Eberhardt.

Das klingt nach viel Freizeit, doch es täuscht: Tatsächlich haben Mallot und Eberhardt viel zu tun. Mehrere Monate wurden sie an der University of Wisconsin-Madison sorgfältig für ihren Einsatz geschult, bevor es im Oktober 2018 in die Antarktis ging. "Auf der Station laufen verschiedenste Experimente zur Atmosphären- und Klimaforschung, zur Erdbebendetektion und Astrophysik", erläutert Eberhardt. "Wir fühlen uns als Team und unterstützen uns gegenseitig. Wir arbeiten an jedem Wochentag und wenn es Probleme gibt, sind wir auch nachts eingespannt." Wobei das mit Tag und Nacht im herkömmlichen Sinn am Südpol eine Definitionsfrage ist, schließlich münden hier im Prinzip alle Zeitzonen. "Wir richten uns aus rein praktischen Gründen nach der neuseeländischen Zeit."

Mallot und Eberhardt sind vor allem für ein Experiment zuständig: Sie wachen darüber, dass beim Neutrino-Detektor IceCube alles rund läuft. Sechs Jahre dauerte es, bis dieses außergewöhnliche Teleskop Ende 2010 fertiggestellt werden konnte. In die rund 3.000 Meter dicke Eisschicht am Südpol wurden 86 senkrechte Kanäle gebohrt, um insgesamt 5.160 kugelförmige Sensoren zu versenken. Sie verteilen sich in einer Tiefe zwischen 1.450 und 2.450 Metern in einem klaren Eiswürfel von einem Kilometer Kantenklänge.

Mit diesen Sensoren suchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit nach hochenergetischen Neutrinos, also nach elektrisch neutralen, beinahe masselosen Teilchen. Anders als Licht lassen sie sich von kaum etwas aufhalten. Etwa 300 Billionen von ihnen sausen pro Sekunde unbemerkt durch den menschlichen Körper. Nur ganz selten reagieren sie mit einem Medium und nur dann sind sie aufzuspüren. Die meisten Neutrinos, die den Erdball durchdringen, entstehen in der Sonne, einige wenige jedoch stammen aus entschieden weiter entfernten Regionen. Auf sie hat es das IceCube-Projekt abgesehen. So wurde 2017 ein Neutrino aus einer 3 Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie nachgewiesen.

Daten für Wissenschaftler aus zwölf Ländern

"2014 war ich das erste Mal am Südpol", erinnert sich Benjamin Eberhardt. "Damals schrieb ich meine Doktorarbeit zu IceCube. Ich blieb allerdings nur vier Wochen im Sommer." Der gebürtige Mainzer wuchs in seiner Heimatstadt auf, hier ging er zur Schule. An der JGU begann er sein Physikstudium und traf auf die IceCube-Forschungsgruppe um Prof. Dr. Sebastian Böser und Prof. Dr. Lutz Köpke. Für einige Semester zog es ihn nach Paris und Vancouver, bevor er für seine Dissertation zurückkehrte. "Ein Leben ohne IceCube kann ich mir mittlerweile kaum vorstellen", feixt er.

Kathrin Mallot wurde in Koblenz geboren. Sie verbrachte ihre Kindheit in Frankreich, studierte in Freiburg Physik und erfuhr als Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin von der dortigen IceCube-Gruppe. "Als sich darüber die Möglichkeit ergab, ein Jahr am Südpol zu arbeiten, ergriff ich die Gelegenheit." Ihre Eltern seien von der Idee anfangs wenig begeistert gewesen, meint sie. "Aber mein Freundeskreis bestärkte mich sehr."

Nun also betreuen die beiden IceCube. Eine kleine Oberflächenstation steht auf Stelzen über dem Eiswürfel. "Die Station ist etwa einen Kilometer von hier entfernt", erzählt Eberhardt. "Wenn es eine Störung gibt, müssen wir raus. Natürlich kommen wir nicht an die Sensoren im Eis selbst heran, aber wir haben die Möglichkeit, sie zu modifizieren und die Software zu aktualisieren, um ihnen neue Tricks beizubringen."

Die Leitung des Projekts liegt bei der National Science Foundation (NSF), Deutschland stellt das zweitgrößte Forschungskontingent. Insgesamt sind rund 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus zwölf Ländern beteiligt. Der Detektor liefert ihnen eine ungeheure Datenflut. "Die Daten wird bereits hier gefiltert und dann weitergeleitet", erklärt Mallot. "Unter anderem schicken wir E-Mails an 40 bis 50 Teleskope auf der ganzen Welt, die ihre Beobachtungen untereinander abstimmen."

Überwintern am isoliertesten Ort der Welt

Insgesamt drei Satelliten ermöglichen die Kommunikation. Darüber sind auch Telefongespräche möglich und ein sehr guter Internetempfang für vier Stunden pro Tag. "Neulich hatten wir eine Schaltung zu einer italienischen Schulklasse", erzählt Mallot. "So etwas würden wir gern häufiger machen." – "Wir gelten zwar offiziell als der isolierteste Ort, aber über die moderne Technik ist schon einiges möglich", bekräftigt Eberhardt. Mit neuen Satelliten soll sogar bald rund um die Uhr Internet zu Verfügung stehen, doch das ist den beiden beinahe schon zu viel. Sie wollen die Abgelegenheit spüren und erfahren. "Ich möchte die Zeit auch nutzen, um in Ruhe über mich selbst nachzudenken", so Mallot.

Die Station steht in knapp 3.000 Metern Höhe auf dem mächtigen antarktischen Gletscherschild, dem polaren Plateau. "Dies ist die trockenste Wüste der Welt", erklärt Eberhardt. "Es gibt keinerlei Erhebung, alles ist flach. Die nächste Küste ist 1.300 Kilometer entfernt." Die Stationsbesatzung muss strenge Umweltauflagen erfüllen. "Es gibt zum Beispiel Sektoren, die wir nicht mit einem Fahrzeug durchqueren dürfen." Auch der Tagesablauf weist einige Besonderheiten auf. "Wasser ist ein Problem. Seine Gewinnung kostet ungeheuer viel Energie. Deswegen ist das Duschen auf zweimal zwei Minuten pro Woche beschränkt."

In der Polarnacht werden Mallot und Eberhardt sich nicht nur um Forschung kümmern. "Jeder in unserer Gemeinschaft übernimmt zusätzlich Aufgaben", so Mallot. "Wir beide sind an der Pflege des Gewächshauses beteiligt und verwalten den Treibstoff für die Station."

Auf die Frage, was ihnen in der Antarktis konkret fehlt, finden beide schnell eine Antwort. "Ich habe eine Katze zu Hause, die würde ich gern mal wieder streicheln", meint Mallot. Auch ein Hund wäre ihr recht. "Ich vermisse das Grün und die Bäume", sagt Eberhardt, "besonders die Gerüche." Doch das steht im Moment nicht im Vordergrund, denn bald bricht die Polarnacht an. "Auf diese Herausforderung freuen wir uns", sagt Mallot. "Dafür sind wir gekommen."