Aus Schülern werden Minister

7. Februar 2013

Für drei Tage zog die Europäische Union nach Kaub: 27 Schüler schlüpften beim Planspiel "EU+" in die Rollen von EU-Abgeordneten, um mit viel Engagement den Beitritt Serbiens und der Türkei in die Gemeinschaft zu verhandeln. Möglich machten das Prof. Dr. Arne Niemann mit seinen Mitarbeiterinnen vom Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), das Weiterbildungszentrum Ingelheim und die Vertretung des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund und der Europäischen Union.

Die Sensation ist perfekt: Serbien erkennt die Unabhängigkeit des Kosovo an. Dafür will es dann aber auch in die EU. Die Vertreter Serbiens sehen müde aus, sie scheinen gestresst. Ihr Zugeständnis war ein großer Schritt, das wissen sie. Doch für die Presse reißen sie sich noch einmal zusammen und lächeln entspannt. "Es läuft alles hervorragend", meint Sarah Zorn. Und Kim Strupp ergänzt: "Wir sind sehr zufrieden." Profis eben.

Der EU-Ministerrat tagt in Kaub in einer Jugendherberge. Die Politiker diskutieren über die Aufnahme der Türkei und Serbiens in die Europäische Union. Drei Tage lang geht es zur Sache. Nationale Interessen prallen aufeinander, der europäische Gedanke steht auf dem Prüfstand.

Gut, tatsächlich sind es Schüler der 12. und 13. Klassenstufe, die hier so leidenschaftlich diskutieren. Sie kommen vom Frauenlob- und vom Schlossgymnasium in Mainz. Prof. Dr. Arne Niemann vom Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat das Planspiel "EU+" initiiert, unter anderem mit Unterstützung des ihm im Jahr 2012 verliehenen Jean-Monnet-Lehrstuhls der EU zu Förderung der Lehre und Forschung zur europäischen Integration. Diese Auszeichnung ermöglicht auch das Schülertreffen in Kaub. Unterstützt wird das Projekt "EU+" zudem durch das Weiterbildungszentrum Ingelheim und die Vertretung des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund und der Europäischen Union.

Darf die Türkei in die EU?

Wie steht es nun mit der Türkei? Darf das Land in die EU? Zwei Vertreter stehen vor dem Ministerrat Rede und Antwort. Lena Petry und Paul Wiesheu haben die Vorzüge ihrer frisch adoptierten Heimat bereits vorgestellt, jetzt verfolgen sie die Debatte. Dabei läuft alles nach festen Regeln ab: Nur wer sich auf die Rednerliste setzen lässt, darf ein Statement abgeben, auch Nachfragen müssen angemeldet werden, einfach losdiskutieren ist nicht.

Heiko Rahn macht sich als Minister Irlands so seine Gedanken: "Wenn die Türkei beitritt, holt sich die EU den Nahost-Konflikt direkt vor die Haustür." Marisa Taboade Meyer formuliert italienische Hoffnungen: "Vielleicht kann die Türkei uns helfen, in Bezug auf die Flüchtlingsströme aus Afrika ein Konzept auszuarbeiten." Und Inga Leither stellt als Griechin Bedingungen: "Die Türkei muss den griechischen Teil Zyperns als Land anerkennen."

In einer Sitzungspause zeigen sich die Organisatorinnen des Projekts "EU+" sehr zufrieden. "Ich hatte es mir schwieriger vorgestellt, die Schüler zu motivieren", sagt Annika Herbel. Im Planspiel schlüpft sie in die Rolle der EU-Kommissionspräsidentin, im wirklichen Leben ist sie Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der JGU wie auch Natalie Schmidthäussler, die sich bereits seit Monaten mit den Details von "EU+" beschäftigt: Ein Sitzungsort musste her, Lehrer mussten kontaktiert werden und vieles mehr.

Probleme mit Kopenhagener Kriterien

Unterstützt werden die beiden von den Studentinnen Theresa Mast und Natalie Hahner, die als Präsidentin und Vizepräsidentin dafür sorgen, dass die Etikette der Debatte eingehalten werden. Die beiden haben bereits bei der Model European Union Mainz (MEUM) Erfahrungen gesammelt. Dort spielen Studierende die Gesetzgebungsverfahren der EU nach. Solche Erfahrungen kommen "EU+" zugute. Schließlich stand MEUM Pate bei diesem neuen Projekt.

Wiesheu weiß, dass sein Land Probleme hat, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen. Doch das ist unabdingbar, wenn die Türkei in die EU will. Nun überrascht er den Ministerrat mit einem Vorschlag: "Ich bin dafür, dass die Abstimmung modifiziert wird. Wir stimmen ab, ob die Türkei, wenn sie in fünf Jahren die Kopenhagen-Kriterien erfüllt, automatisch EU-Mitglied werden soll." Mit diesem Schachzug hat er die Chancen für ein positives Votum schlagartig erhöht.

Claudius Dölle, Lehrer am Mainzer Schlossgymnasium, ist von seinem Schüler beeindruckt. "Er schlägt sich richtig gut." Wie sein Kollege Carsten Frigger vom Frauenlob-Gymnasium hätte Dölle solch ein Engagement nicht unbedingt erwartet. Er schaut auf die Uhr: "Wir haben heute um 9:30 Uhr angefangen, jetzt ist es bald 18 Uhr und die halten durch." Frigger fügt hinzu: "Ich bin froh, dass wir das Thema EU auf diese Weise vermitteln können. Für den Unterricht wäre das ein dickes Brett."

EU spielerisch erfahren

Genau darum geht es bei "EU+": Die Schüler sollen spielerisch erfahren, wie es läuft in den Gremien der Europäischen Union. Sie sollen merken, welchen Stellenwert all das hat, was dort verhandelt wird.

"Die meisten Schülerinnen und Schüler hatten kein besonders tiefes Wissen über die EU", resümiert Herbel. Am ersten Tag wurden die Schüler deshalb vorbereitet auf ihre Rollen. So bekam jeder Minister ein kurzes Dossier zu seinem Land und dessen Interessen. Derart gerüstet ging es in die Sitzungen, die Präsentationen und in die Pressekonferenz, bei der Frigger und Dölle als Journalisten Fragen stellten.

Frigger befürchtet eine "Abkoppelung des Wasserkopfs EU von ihren Bürgern". Denn die Bürger hätten sich schließlich mehrheitlich gegen eine EU-Erweiterung ausgesprochen. Was bedeutet es nun, wenn die Politiker dennoch dafür stimmen? "Ich habe ein so tolles Ansehen in meinem Land", meint Tschechiens Minister David Neugebauer, "ich bin gut aussehend und charismatisch. Wenn ich für den Beitritt bin, ist unsere Bevölkerung auch dafür." Offensichtlich sollte er noch lernen, dass ein Politiker so etwas allenfalls denken darf. Aber sonst ...

"Das war voll anstrengend, aber spannend"

Der Pilotversuch "EU+" ist gelungen, da sind sich die Organisatorinnen sicher. "Wir haben den Plan, dass jedes Jahr zu machen", kündigt Herbel an. "Wir können damit auch einen Beitrag leisten, Schulen und Hochschulen besser zu vernetzen."

So sieht das auch Christina Beer, Geschäftsführende Beauftragte des Zentrums für Lehrerbildung (ZfL) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. "Es geht darum, Schule und Uni einander näherzubringen. Unser JuniorCampusMainz (JCM) soll die Angebote dazu bündeln." Mehr als 200 solcher Angebote gibt es schon, "EU+" gehört nun dazu. "Das ist ein sehr engagiertes Projekt", lobt Beer, "sowohl hinsichtlich der Vorbereitung als auch der Mittel, die dort hineingesteckt werden. Es ist didaktisch sehr gut durchgeplant und sehr zielführend. Wie so viele Projekte im JCM macht es Wissen erfahrbar."

Und was sagen die Schüler? "Das war voll anstrengend", sind sich die Vertreterinnen Serbiens einig, "aber spannend." – "Ich bin mit meiner Aufgabe gewachsen", meint Wiesheu und klingt fast wie ein Politiker. Doch das gibt sich. "Ich habe vorher wenig über die EU gewusst", gibt er zu. "Einen EU-Beitritt der Türkei hätte ich vorher abgelehnt, weil ich eher die negativen Aspekte gesehen habe, jetzt kenne ich die positiven. Ich wäre jetzt für einen Beitritt."

Es hat sich also einiges geändert in den drei Tagen. "Ich würde so etwas gern öfter machen", sagt Wiesheu. Da ist er nicht der einzige. Doch im nächsten Jahr werden andere auf den Ministerstühlen hinter den Flaggen ihrer Nation sitzen. Hoffentlich sind sie dann genauso leidenschaftlich dabei.