Das böse Märchen von der Korruption

21. Februar 2013

Jan Beek und Mirco Göpfert reisten nach Ghana und Niger, um die dortige Polizeiarbeit zu untersuchen. Mit ihrem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt "Boundary Work: Police in West Africa" räumen sie mit einer ganzen Reihe von Vorurteilen auf und eröffnen zugleich einen neuen Blick auf Polizeiarbeit in Deutschland.

Westafrikas Polizei ist korrupt. Sie unterstützt brutale Regime oder schützt auf Kosten der Bevölkerung die Großkonzerne und ihre neoliberalen Interessen. Diese Klischees haben sich festgesetzt und verstellen mitunter selbst den Blick der Fachleute.

Das kennen auch Jan Beek und Mirco Göpfert vom Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Oft zitieren sie diese wohlfeilen Klischees, wenn sie über ihre Forschung schreiben oder reden – und setzen dann ihre eigenen Erkenntnisse dagegen.

Keine Kluft zwischen den Kontinenten

Die beiden Mainzer Doktoranden beobachteten 16 Monate lang die Polizeiarbeit in Westafrika. Beek war in Ghana unterwegs, Göpfert in Niger. Auch bei der deutschen Polizei waren sie zu Gast, um genau hinzuschauen. Beek fasst die Forschungsergebnisse in wenigen Worten zusammen: "Es gibt da viele Gemeinsamkeiten. Wir haben mehr Verbindendes als Trennendes gefunden."

Ein schmaler Treppenaufgang führt in die Büros der Ethnologen und Afrikaforscher unter dem Dach der Alten Mensa. An den Wänden hängen Plakate, die von dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt zeugen, an dem die beiden unter Leitung von Prof. Dr. Carola Lentz vom Institut für Ethnologie und Afrikastudien seit 2011 arbeiten: "Boundary Work: Police in West Africa".

"Das meiste, was über die Polizei in Westafrika geschrieben wird, lässt sich kaum überprüfen", sagt Beek. Es gebe wenig solide Erkenntnisse auf dem Gebiet. Trotzdem gingen viele Fachleute von einer tiefen Kluft aus: "Die europäische Sozialforschung hat sehr idealistische Vorstellungen, was die Arbeit der Polizei in Europa und den USA angeht. Dagegen wird dann das gehalten, was in Afrika zu finden ist." Hier werden also europäisches Ideal und afrikanische Realität miteinander verglichen, nicht zwei Realitäten.

Gesetz und Ermessensspielraum

Drei Wochen waren Göpfert und Beek bei der deutschen Polizei. Sie fühlten sich beinahe wie Praktikanten, denn sie erlebten den gesamten Dienstalltag mit. Aber wo genau waren die beiden? Göpfert lächelt: "Das dürfen wir nicht verraten."

Wohl aber dürfen sie über den Kern ihrer Erkenntnisse reden: "Die Polizisten haben einen großen Ermessensspielraum", sagt Beek. Klar, das Gesetz ist Basis ihres Handelns. Aber viele Entscheidungen im Alltag sind eine Frage des Ermessens und das Gesetz schreibt die Details des Alltagshandelns kaum vor. Das kritisieren die beiden Doktoranden nicht. Sie enthalten sich überhaupt jeder Wertung. Und mit diesem Ansatz – beobachten, nicht bewerten – reisten sie auch nach Westafrika, um sich mit der Polizeiarbeit dort vertraut zu machen.

Die beiden suchten zwei sehr unterschiedliche Länder aus: Ghana gilt seit Anfang 1993 als recht stabile Demokratie, deren Strukturen in vielerlei Hinsicht denen in der Heimat der ehemaligen britischen Kolonialherren ähneln. Im einst von Frankreich kolonisierten Niger wird der Präsident alle fünf Jahre direkt gewählt. Seine Macht ist groß, die Unsicherheit im Land leider ebenfalls. Der letzte Militärputsch ist gerade erst drei Jahre her. In beiden Ländern entstand die Polizei unter dem Einfluss der Kolonialmächte.

Beispiel: Körperverletzung

Wieder waren Göpfert und Beek beinahe wie Praktikanten unterwegs. Aber 16 Monate Erfahrungen in den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern der Polizei lassen sich schwer in einem Gespräch zusammenfassen. Sie müssten von Verkehrskontrollen erzählen, vom Kampf gegen das organisierte Verbrechen, von Großeinsätzen und vielem mehr. Lieber greifen sie ein Beispiel heraus.

"In Ghana gehen die Leute eher selten zur Polizei", erzählt Beek. "Nehmen wir mal das Beispiel einer Körperverletzung." Da werde erst versucht, den Fall ohne Polizei zu klären. Der Gang zur Wache sei ein großer Schritt. "Die Polizei nimmt bei einer Anzeige die gegnerische Partei relativ schnell fest." Und die Gefängnisse in Ghana sind kein Spaß.

"Andererseits besteht die Chance, dass der Inhaftierte relativ schnell wieder frei kommt." Denn Mitglieder der "Community" – Beek zögert, das einfach mit Gemeinschaft oder Gemeinde zu übersetzen – schalten sich ein. "Sobald jemand in der Zelle landet, ist es wichtig, dass jemand aus der Community kommt und sagt: 'Der ist in Ordnung.'"

Schlichtung ist angesagt

Fürsprecher aller Interessensparteien werden aktiv und inmitten dieses Geflechts agiert der Polizist. Oft handelt er nur dann, wenn auch die Parteien aktiv bleiben. Geldgeschenke sind nicht unüblich. "Aber Sie müssen bedenken, dass die Infrastruktur so beschaffen ist, dass der Polizeibeamte das Geld braucht, um beispielsweise seinen Autotank zu füllen, um also überhaupt seine Arbeit erledigen zu können." Die Annahme eines Geschenks ist üblich, heißt aber keineswegs, dass der Polizist automatisch zum Bestochenen wird.

"Es geht vor allem um Beziehungen, die dauerhaft aufrechterhalten werden. Der Gang vor Gericht gilt dann als der letzte, extreme Schritt. Er führt dazu, dass alle sozialen Beziehungen, auch zwischen den Familien der Parteien, zusammenbrechen." Deswegen steht die vorherige Schlichtung im Mittelpunkt. Der Polizist ist Mediator – mit Ermessensspielraum.

"In Niger gibt es dieselbe Erwartung an eine Schlichtung", berichtet Göpfert. "Aber es kommt nicht so oft vor, dass sich einzelne Fürsprecher einmischen. Die Gendarmen hören sich beide Seiten an, dann sagen sie: 'Geht raus, verständigt euch. Wenn ihr einen Konsens findet, kommt ihr wieder.' Der Gendarm gilt dann als Garant, dass der Kompromiss auch trägt."

Vom Ringen um Unabhängigkeit

Das klingt zunächst fremd für europäische Ohren. Doch letztlich schlagen sich die Polizisten in Ghana und Niger mit denselben Problemen herum wie ihre europäischen Kollegen. "Die Unabhängigkeit der Polizei ist überall ein großes Thema", so Beek. Um sie wird gerungen. "Wenn sich etwa in Niger ein hohes Tier in einen Fall mischt, sagt sich der Polizist oft: 'Ich berichte erst einmal der Staatsanwaltschaft, was vorgefallen ist.'" Er holt sich Rückendeckung – wie seine deutschen Kollegen.

"Für Polizisten überall auf der Welt ist das Gesetz eine Ressource, die sie oft gerade nicht ausschöpfen", meint Beek. Er sieht Polizisten in einem Spannungsfeld. "Sie müssen schauen, wie sie den Druck aus unterschiedlichen Richtungen händeln und sich dabei möglichst ihre Unabhängigkeit bewahren."

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat nun Gelder für die letzte Phase von Göpferts und Beeks Projekt bewilligt. Bis März 2014 werden die beiden untersuchen, ob und wie der Transfer von anderen Polizeimodellen nach Afrika funktioniert und was die westafrikanische Polizei umgekehrt an neuen Ansätzen zu bieten hat.

Europäische Polizei könnte noch etwas lernen

Kollegen aus verschiedensten Ländern kommen, um die Polizei in Ghana zu schulen. "Dabei erzählt der chinesische Polizist, wenn es etwa um die Bekämpfung von Aufständen geht, natürlich etwas völlig anderes als der Mann von der spanischen Guardia civil." Damit müssen die Ghanaer klarkommen – und sie kommen damit auch oft klar. "Sie passen die Fortbildungsmaßnahmen an ihre Situation an." Derweil könnte sich die europäische Polizei etwas abschauen von den Strategien, mit denen die Westafrikaner etwa Onlinekriminalität bekämpfen.

Aber wie der Austausch von technischem Know-how und Normen genau funktioniert oder funktionieren könnte, müssen die beiden noch genauer untersuchen. Für Göpfert ist allerdings jetzt schon klar: "Durch unsere Arbeit in Westafrika bekommen wir einen ganz neuen Blick auf die deutsche Polizei." Von einer Kluft kann keine Rede sein. "Eher von vielen Gemeinsamkeiten." Diese Gemeinsamkeiten wird das Duo in den nächsten Jahren weiter ausloten.