"Der Körper wird immer anders erfahren"

29. April 2013

Rund 100 Wissenschaftler aus aller Welt kamen zum 2. Mainzer Symposium der Sozial- und Kulturwissenschaften an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Sie tauschten sich in 35 Vorträgen über "Praktiken & ihre Körper" aus. Dabei ging es häufig um sehr praxisnahe Themen wie Essen oder Sport, aber es standen auch hoch theoretische Vorträge auf dem Programm.

In einer düsteren kleinen Stube sitzen fünf Menschen. Reich sehen sie nicht aus, glücklich auch nicht unbedingt. Ihre Kleidung ist ländlich, das Mahl auf ihrem Tisch einfach. Von einem gemeinsamen Teller gabelt die kleine Gesellschaft Kartoffeln.

1885 hat der Niederländer Vincent van Gogh "Die Kartoffelesser" auf Leinwand gebannt. 2013 gelangt das Gemälde per PowerPoint-Präsentation auf ein Symposium nach Mainz. Es geht um "Praktiken & ihre Körper". Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen wollen einer Frage auf den Grund gehen: "Was für ein Artefakt ist der Leib?"

An die 100 Körper aus aller Welt sitzen in dem weiten Saal und hören van Goghs Landsmännin Prof. Annemarie Mol zu. Das Publikum ist recht jung. Schlips, Kostüm oder Anzug sind selten zu sehen, es geht wenig formell zu auf dieser Konferenz.

Die Kartoffel und die Kartoffelesser

"Kartoffeln essen ist eine Praktik", konstatiert die Anthropologin von der Universität Amsterdam. "Die Kartoffelesser kennen die Kartoffeln. Die Kartoffeln kennen die Kartoffelesser." Seit Jahrtausenden wird die Kartoffel als Lebensmittel vom Menschen domestiziert. Darüber weiß sie quasi, was die Esser essen wollen. Und der Mensch wird durch die Kartoffel beeinflusst. Eine Kultur des Kartoffelkonsums hat sich über Jahrtausende entwickelt. Beide Seiten kreieren sich gegenseitig.

"Es ist die Stärke unserer Konferenz, dass wir hier Vorträge hören, die eher von der Praxis ausgehen, und andere, die hoch theoretisch sind", sagt Tobias Boll vom Institut für Soziologie der JGU. Er kümmert sich mit einigen Helfern um alle Belange der Tagungsorganisation und er entwarf das Plakat zur Konferenz: Eine Malerpuppe ist dort zu sehen, hölzern und ohne Gesichtszüge, aber durchaus mit Ausdruck in ihren beweglichen Gliedern.

Das Forschungszentrum Sozial- und Kulturwissenschaften Mainz (SoCuM) veranstaltet alle zwei Jahre ein internationales Symposium zu einem innovativen interdisziplinären Forschungsthema aus den Sozial- und Kulturwissenschaften. Die erste Tagung im Jahr 2011 stand unter der Überschrift "Materialitäten".

Der verstreute Körper

Das diesjährige Symposium widmet sich nun – mit Unterstützung des Forschungsschwerpunkts Historische Kulturwissenschaften (HKW) der JGU – dem Themenkomplex "Praktiken & ihre Körper". Drei Organisatoren stehen gleichsam für die Interdisziplinarität der Konferenz: Prof. Dr. Stefan Hirschauer vom Institut für Soziologie, Prof. Dr. Matthias Krings vom Institut für Ethnologie und Afrikastudien sowie Prof. Dr. Jörg Rogge vom Historischen Seminar.

Doch zurück zu Mol: Eine der zentralen Thesen ihres Vortrags "Wo ist mein Körper? Anmerkungen zum Essen und zur Topologie" lautet: "Der Körper ist verstreut." Das klingt für den Laien befremdlich, doch die Professorin erklärt es anschaulich.

"Für die Anatomie ist der Körper etwas, das in einer Haut steckt." Die Haut ist die Grenze, die Definition damit eindeutig. Aber wie ist das etwa in der Physiologie? "Die Physiologie baut auf den lebenden Körper." Der lebende Körper aber isst Bananen aus Costa Rica oder Reis aus Thailand. "Der Körper der Physiologie ist nicht lokal, er ist verstreut." Mol zeigt ein Foto von Bananenwäscherinnen in Costa Rica: Mit ihnen ist sie über den Konsum verbunden. Das, was die Wäscherinnen da tun, tun sie nur, weil Mol und andere Bananen essen. "Meine körperliche Substanz kommt von woanders. Ich inkorporiere sie."

Vom Genuss und vom Kalorienzählen

Mol wählt verschiedenste Wege, um das Bild vom Körper als begrenzter, eindeutiger Einheit mit klar definierten Funktionen zu hinterfragen. "Die US-Army wollte einst wissen, mit wie vielen Kalorien ein Körper auskommen kann." Entsprechend wollte man die Rationen der Soldaten bemessen. Man kam auf 2.000 Kalorien am Tag. Aus Sicht der Wissenschaftler im Labor eine richtige Antwort. Doch die Nachricht von den 2.000 Kalorien verbreitete sich. Sie führte mit dazu, dass zumindest in den reichen Teilen der Welt Menschen manisch Kalorien zählen, um sich das richtige Maß an Nahrung zuzuführen, um bloß nicht dick zu werden.

"Dieses Zählen aber nimmt uns den Genuss." Der Körper misst seine Sättigung nicht nach Kalorien. Was amerikanische Wissenschaftler fürs Militär austüftelten, ist dem Körper egal. Er misst nach der Menge der Lust, die ihm Essen bereitet. "Ausgerechnet das Zählen, das heute zu einer guten Figur führen soll, das übermäßiges Essen stoppen soll, nimmt die Lust und führt zu mehr Essen."

Körper in allen Konstellationen

Zwei Wahrheiten treffen also aufeinander, die in ihrer jeweiligen Sphäre Gültigkeit haben, sich aber völlig widersprechen. "Schauen Sie auf das Spezielle", fasst Mol zusammen, "nicht auf generelle Antworten."

SOCUM lädt jedes Jahr eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler von herausragendem Rang nach Mainz ein, um die Georg Forster Lecture zu halten. Diesmal fiel die Wahl auf die vielfach ausgezeichnete Anthropologin Mol. Ihr Vortrag wurde zu einem der Höhepunkte des Symposiums.

Doch er war bei Weitem nicht der einzige bemerkenswerte Beitrag. Insgesamt 35 Wissenschaftler stellten an drei Tagen ihre Thesen vor. So betrachtete Haruka Okui aus Kyoto die Puppe im Puppenspiel als "gelebten Körper", Ehler Voss aus Siegen beleuchtete den Körper in den verschiedenen Konstellationen der Familie und Prof. Chris Shilling aus Kent sprach über "The Dys/Appearance of Material Bodies: Entangled Emergences, Involved Reflexivities und the Problem of the Habitus".

Heraus aus der Haut

"Ein sehr dichter Vortrag", kommentierte Hirschauer die Ausführungen seines britischen Kollegen. Shilling, Mitbegründer der Body Studies in den 1980er Jahren, gehörte zweifellos zu den großen Theoretikern des Symposiums. Unter anderem erklärte er, wie religiöse Praktiken den Körper disziplinieren.

"Das ist das Angebot der Sozialwissenschaften: Der Körper ist nicht mehr in seiner Haut gefangen, er hat nicht mehr den Objektcharakter", skizzierte Hirschauer gegen Ende des Symposiums ein Leitthema, das sich durch alle Beiträge zog. "Im 17. Jahrhundert etwa hatte man einen anderen Körper als im 21. Jahrhundert", so der Soziologe. "Man hat eben nicht einfach einen Körper, der Körper wird immer anders erfahren."