"Goethe hätte einen Herzinfarkt bekommen"

12. Juni 2013

Die renommierte Opernregisseurin Sandra Leupold lehrt für ein Semester an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Als Inhaberin der Klara Marie Faßbinder-Professur für Frauen- und Geschlechterforschung ist sie zu Gast an der Hochschule für Musik und am Institut für Film-, Theater und empirische Kulturwissenschaft.

Gerade kommt sie aus Berlin, dort ist sie zu Hause. "Ich habe versucht, im Zug ein bisschen zu schlafen", erzählt Sandra Leupold. Ihr Miene ergänzt: Es hat nicht so recht geklappt. Dennoch wirkt Leupold hellwach, wenn sie vom kommenden Abend spricht. Die Aufführung von Carlo Pallavicinos Oper "La Gerusalemme liberata" im Kleinen Haus des Mainzer Staatstheaters steht an, und die Regisseurin macht sich so ihre Gedanken. "Das Stück hat zwei Wochen gelegen. Noch eine Probe vorher wäre gut gewesen."

Im Jahr 2001 rief das rheinland-pfälzische Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur die Klara Marie Faßbinder-Gastprofessur ins Leben. Ziel ist es, der Frauen- und Geschlechterforschung an den Hochschulen des Landes neue Impulse zu verleihen. Die Professur wird jeweils an eine international bekannte und renommierte Forschungspersönlichkeit verliehen.

Die Faßbinder-Gastprofessur 2013 ging an Sandra Leupold, die sich vor allem als Opernregisseurin einen gewaltigen internationalen Ruf erworben hat. Sie arbeitete mit Dirigentinnen und Dirigenten wie Sir Simon Rattle, Paolo Carignani oder Simone Young zusammen. Sie inszenierte "Les Boréades" für die Proms in der Royal Albert Hall, "Ariane et Barbe-Bleue" in Frankfurt oder "Erwartung" mit Deborah Polaski an der Oper Leipzig. Und nebenher nimmt die Theater- und Musikwissenschaftlerin auch immer wieder Lehraufträge an, ob in Bayreuth, Berlin – oder eben in Mainz. Hier war die Inszenierung von "La Gerusalemme liberata" ein wichtiger Teil der Professur.

Kommerzielle Oper in Venedig

"Sie werden es spannend finden in dieser Art von Oper", verspricht Leupold. Dann erzählt sie, was es mit "La Gerusalemme liberata" auf sich hat: "Wir sind gewohnt, dass Oper viel Geld kostet." Das war schon im Barock so, als das Genre noch in den Kinderschuhen steckte und Monteverdi 1607 mit "L'Orfeo" den ersten Meilenstein setzte.

"Aber schon lächerliche 30 Jahre später kamen Leute in Venedig auf die Idee, mit Oper Geld zu machen. Im Jahr 1637 gründete ein kleine Gruppe von Verrückten ein Theater, in dem es Opern gab, für die tatsächlich jeder Tickets kaufen konnte, auch wenn die natürlich teuer waren." Was vorher an den Höfen einer aristokratischen Elite vorbehalten war, stand nun den Bürgern offen. "Bald gab es schon 16 solche Opernhäuser in einer Stadt, die damals so groß war wie Mainz heute."

Natürlich hatte diese Kommerzialisierung Folgen. Komponisten wie Pallavicino waren um die Gunst des Publikums bemüht. Bunt mussten die Werke sein und abwechslungsreich, komisch und tragisch. Es ging darum, beliebte und bekannte Figuren, Szenen und Arienformen immer wieder neu auf die Bühne zu bringen. Die Oper hatte ihr Unterhaltungsformat gefunden.

Filmschnitt als Kind des 17. Jahrhunderts

"'La Gerusalemme liberata' ist anders als die Barockopern, die das Publikum wahrscheinlich sonst so kennt." Das werde schon bei den Arien deutlich: "Die kürzeste dauert 19 Sekunden und sie enthält alles, was eine Arie haben sollte." Leupold sieht Parallelen zur heutigen Film- und TV-Industrie, zur Soap Opera. "Der Filmschnitt zum Beispiel ist keine neue Erfindung, er war damals schon Stilmittel."

Vor gut 300 Jahren war "La Gerusalemme liberata" das letzte Mal zu sehen und zu hören. Nun hat Leupold der Oper wieder Leben eingehaucht – gemeinsam mit Studierenden der Hochschule für Musik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Als Junges Ensemble stehen sie im Staatstheater Mainz auf der Bühne. Der siebenwöchige Workshop verlangte den jungen Sängerinnen und Sängern einiges ab.

Daneben hält Leupold als Gastprofessorin noch die Vorlesung "Operngeschichte als Frauengeschichte" und sie bietet das Seminar "Geschlechtsidentitäten in der Barockoper" an. "Die Frauenfiguren in der Oper sind immer männlich imaginierte Weiblichkeiten", sagt sie. Und in den Opern gerade des 19. Jahrhunderts habe sich die Rolle der Frau als Opfer verfestigt. "Sie werden nach alle Regeln der Kunst vernichtet und zu Tode gebracht." Davon erzählt die Musik- und Theaterwissenschaftlerin. "Ich hangele mich dabei an 35 Opern entlang, die ich selbst schon inszeniert habe."

Kämpferische Frauen im Rampenlicht

Eine besondere Position nehmen für Leupold die Barockopern ein, gerade wenn es um die Geschlechter-, um die Gender-Problematik geht. Einerseits sieht sie das vielfältige Bild der Sängerinnen und Sänger auf der Bühne: Männer in Frauenrollen, Kastraten als Stars ... Dann aber auch die Vielfalt an weiblichen Rollen, die es in Barockopern gibt. "Sie sind voller Frauen, die erstaunlich männlich und kämpferisch daherkommen."

Das ist auch in "La Gerusalemme liberata" so. Das Werk, das vor dem Hintergrund der Eroberung Jerusalems durch die Christen im Jahr 1099 spielt, präsentiert zwei Frauen auf Seiten der Sarazenen. "Es sind Zauberinnen, Kämpferinnen. Die eine stellt sich in Harnisch und Rüstung dem Zweikampf." Das ist Clorinda, die Verlobte des sarazenischen Herrschers von Jerusalem. Die andere ist die Magierin Armida. Sie entführt die Ritter aus dem Kreuzfahrerheer, um den Feind zu schwächen. Beide scheitern an der Liebe zu einem christlichen Ritter – aber auch an einem Zauberer in den Reihen der Christen.

"Die Einheit von Form, Inhalt und Zeit wird in dieser Oper nach Herzenslust mit Füßen getreten", wirbt Leupold auf ihre besondere Art für das Werk. "Goethe hätte einen Herzinfarkt bekommen. Der hätte so etwas nicht schauen können." Dagegen eigne sich "La Gerusalemme liberata" durchaus für das durch Soap Operas gestählte Publikum der Gegenwart.

Glaubwürdigkeit und Nähe

"Ich will Nähe zum Publikum herstellten", erzählt Leupold von ihrer Inszenierung. "Viele Opernsängerinnen und -sänger denken: 'Na ja, erst mal muss ich schön singen. Theaterspiel kommt dann als i-Tüpfelchen obendrauf.‘ Dagegen kämpfe ich. Das Verhalten der Akteurinnen und Akteure auf der Bühne muss lesbar sein, ich muss Glaubwürdigkeit herstellen." Dieser Stil hat Leupold viel Beifall und viele Auszeichnungen eingebracht. Niemand erstarrt in ihren Inszenierungen zur Statue und schmettert nur schön seine Arie. Im Kleinen Haus des Staatstheaters wartet eine Überraschung auf Publikum ...

"La Gerusalemme liberata" wird zu einem rasanten Spektakel. Kreuzfahrer schlagen sich mit Sarazenen. Slapstick trifft auf große Geste, Komik auf Arie. Es wird gezaubert, geliebt und gelitten. Ein Bühnenbild gibt es kaum, aber die schnelle Abfolge der Szenen macht das vergessen. Manch ein routinierter Operngänger brummt befremdet angesichts dieses merkwürdigen Werks. Aber es reißt ihn mit.

Natürlich ist Leupold in der Pause nicht ganz zufrieden. "Die Arbeit mit den Studierenden war super", sagt sie. "Aber das Stück hat eben zwei Wochen gelegen ..." Das Publikum allerdings zeigt sich fasziniert. Applaus brandet auf nach dem Finale.

Leupold kann sich nun auf ihre nächsten Aufgaben vorbereiten. Das Seminar wartet und noch in dieser Woche steht ihre nächste Vorlesung an. "Kommen Sie doch vorbei", lädt sie ein. "Es wird spannend."