Geschichte in Schädeln

7. August 2013

In den letzten drei Jahren hat PD Dr. Holger Herlyn am Institut für Anthropologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) eine moderne Lehrsammlung aufgebaut: Schädelreplikate dokumentieren die Entwicklung des Menschen und seine Verwandtschaft zu den übrigen Primaten. In den Vitrinen der Sammlung liegen die Exponate bereit für die forschenden Hände der Studierenden.

Dr. Holger Herlyn sitzt an seinem Schreibtisch. Den Schädel des rund 50.000 Jahre alten Neandertalers aus dem französischen La Ferrassie hat er sich zwischen die Knie geklemmt, um die Hände frei zu haben. Denn zum Vergleich hält er nun den entschieden kleineren Schädel eines Australopithecus africanus daneben, eines Homininen, der vor rund 2,5 Millionen Jahren in Afrika gelebt hat.

Beide Fossilien stehen im Moment auf dem Kopf. Die Öffnungen an der Unterseite der Schädel sind zu sehen, die sogenannten Hinterhauptlöcher. Dort endete einst die Wirbelsäule. Auffällig ist, dass sich die Öffnung beim Australopithecus viel weiter hinten befindet als beim Neandertaler, bei dem sie eher Unterhauptloch heißen könnte: Sie liegt weiter vorn in Richtung Kiefer.

"Das sagt uns etwas über den Gang der beiden", erklärt Anthropologe und Evolutionsbiologe Herlyn. Der Neandertaler lief aufrecht, also erhobenen Hauptes durch die Welt. "Arten wie Australopithecus africanus konnten zwar aufrecht gehen, waren aber wohl nicht in demselben Ausmaß dazu befähigt wie Neandertaler und andere Menschenarten."

Homo sapiens und andere Primaten

Bei den Schädeln, mit denen Herlyn so unbekümmert hantiert, handelt es sich um Replikate. Die Täuschung allerdings ist perfekt. Kleinste Details sind an diesen modernen Plastikmodellen auszumachen. Jede Farbnuance, jede Unregelmäßigkeit, jeder kleinste Riss ist den Originalfunden abgeschaut.

"Unsere Sammlung ist im materiellen Sinn nichts Wertvolles", stellt Herlyn klar. "Diese Replikate könnte sich im Prinzip jeder anschaffen." Doch für die Lehre sind die Schädel ein Schatz. In Herlyns Büro finden sich neben einem Original eines menschlichen Schädels (Homo sapiens) rund drei Dutzend der besagten Replikate. Sie dokumentieren nicht nur die Entwicklung hin zum heutigen Menschen, auch die nahen Verwandten wie etwa Krallenaffe und Rhesusaffe sind vertreten.

Mit der osteologischen Lehrsammlung des Instituts für Anthropologie kann Herlyn vor allem drei große Themen für die Studierenden greifbar machen. "Das eine ist die Rekonstruktion der zwischenartlichen Verwandtschaftsverhältnisse. Die meisten wissen zum Beispiel gar nicht, dass Schimpansen viel näher mit dem Menschen verwandt sind als mit Gorillas. Zwar ist das der Forschung schon länger bekannt, aber die Darstellung in den Medien ist meist sehr unklar. Da wird sogar der Eindruck vermittelt, dass der Mensch vom Schimpansen abstammt. Das mag teilweise ein semantisches Problem sein, aber eine solche Darstellung leitet zumindest in die Irre. Wir stammen nicht vom Schimpansen ab. Wir haben gemeinsame Vorfahren."

Wenn Affen lächeln

Die Frage "Was teilen wir mit anderen Arten?" umreißt den zweiten großen Komplex, dem die Studierenden mit der Lehrsammlung nachspüren. Herlyn hat wieder ein Beispiel und einen Schädel parat. "Was wir vom Menschen beim Lächeln wahrnehmen, sind zuerst die flächigen Schneidezähne. Derartige Zähne sind bereits recht früh im Primatenstammbaum aufgetreten und finden sich heute nicht nur bei unserer Spezies sowie bei Schimpansen und Gorillas, sondern auch bei Neuweltaffen, Rhesusaffe und anderen. Nach allem, was wir wissen, handelt es sich um eine evolutive Neuheit der sogenannten Echten Affen (Anthropoidea)." Mit dem Finger fährt der Anthropologe über die Schneidezähne im zierlichen Unterkiefer des Exponats.

Das dritte wichtige Thema ist die Menschwerdung und alles, was damit verbunden ist. Der zwingend aufrechte Gang, die über Jahrhunderttausende wachsende Schädelgröße oder die Veränderungen im Gebiss – all das und einiges mehr lässt sich an den Schädeln ablesen.

"Eine evolutionäre Neuheit unserer Spezies ist beispielsweise das hervorspringende Kinn." Herlyn greift noch mal zum Neandertaler. Der Schädel aus La Ferrassie hat kein solches Kinn. Das Original eines jüngeren Schädels unserer Spezies jedoch zeigt den markanten Unterkiefervorsprung. "Wir können nur vermuten, wie sich diese Eigenschaft entwickelt hat. Es könnte sexuelle Auslese gewesen sein. Irgendwann trat diese Mutation auf und wurde vielleicht als attraktiv empfunden."

Alte Gipsmodelle neben neuem Plastik

Vor rund drei Jahren begann Herlyn damit, die Lehrsammlung aus Schädelreplikaten anzulegen. Der Großteil der Stücke findet sich in einem Seminarraum im Neubau des Instituts für Anthropologie. Hier sieht alles noch weiß, frisch und beinahe unbenutzt aus – bis auf die jahrzehntealten Vitrinen, in denen die rund 100 Schädel liegen.

Hier ruhen auch die Gipsmodelle, an denen Studierende früher lernten. Im Vergleich zu den neuen Replikaten wirken sie plump und unrealistisch. Auch die Kolorationen lassen zu wünschen übrig.

Im Vergleich dazu zeigt Herlyn den winzigen Schädel eines Feuchtnasenaffen: Aus dem Unterkiefer des Lemuren ragt ein Zahnkamm nach vorn, ein Gebilde schmaler als ein Menschenfingernagel. Winzige Rillen, mit bloßem Auge gerade noch zu erkennen, zeigen, dass sich der Kamm aus sechs Zähnen zusammensetzt. "So etwas kann man nur an diesen modernen Replikaten sehen."

Schädel können viel erzählen

Die Lehrsammlung kommt an. "Die Übungen damit sind eingebettet in ein Praktikum, bei dem die Studierenden vor allem im Labor stehen und molekular arbeiten. Da ist es eine passende Ergänzung, wenn zwischendurch größere Objekte in die Hand genommen werden."

Dass die Molekulargenetik in den letzten Jahrzehnten zu Fragen der Menschwerdung und der Verwandtschaftsverhältnisse wichtige Antworten geliefert hat, weiß Herlyn natürlich. "Aber manches können sie auch an den Knochen erkennen." Wieder hat der Anthropologe ein Replikat in den Fingern, den Schädel eines Koboldmakis. "Lange war umstritten, ob Koboldmakis näher mit den Feuchtnasenaffen oder mit den Echten Affen einschließlich des Menschen verwandt sind." Die Molekulargenetik belegte: Die Echten Affen stellen die nächste Verwandtschaft dar.

"Das wissend fällt es leicht, auch anatomische Belege für die Stellung des Koboldmakis im Primatenstammbaum zu benennen." Herlyn deutet auf die großen Augenhöhlen aus Plastik. "Schauen Sie, eine geschlossene Augenhöhle – wie beim Menschen."