Bibliothek ohne Bücher

14. November 2013

Forschungsergebnisse sollen uneingeschränkt über das Internet zugänglich sein – das ist die Idee, die hinter dem Begriff "Open Access" steht. Die Universitätsbibliothek der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) treibt diese Entwicklung seit einigen Jahren aktiv voran. Bibliotheksdirektor Dr. Andreas Brandtner erzählt, wohin der Weg führt.

In seinem Büro stapeln sich keine alten Bücher in schattigen Winkeln. Es sind keine wertvollen Erstausgaben hinter Glas zu bewundern. Im Gegenteil: Der Raum wirkt sehr aufgeräumt und hell. Dr. Andreas Brandtner setzt auf klare Linien statt auf vollgestopfte Regale.

Der Direktor der Universitätsbibliothek (UB) entspricht so gar nicht dem Klischee eines Bibliothekars. Bücher haben in seinem Haus zwar durchaus einen Wert, aber eben nicht als sorgsam gehütete Schaustücke. "Es ist positiv, wenn ein Buch kaputt geht", sagt Brandtner lächelnd. "Das heißt ja, es wurde oft ausgeliehen und gelesen. Unser Kauf war also richtig."

Und wenn die zunehmende Digitalisierung dazu führt, dass Bücher immer mehr in den Hintergrund rücken, ist dem Österreicher das auch recht. "Uns geht es darum, wissenschaftliche Informationen für die Scientific Community zugänglich zu machen", meint er pragmatisch. Das aber muss längst nicht mehr nur über das gedruckte Buch oder die gedruckte Zeitschrift geschehen.

Fachzeitschriften im Internet

"Open Access" ist das Zauberwort einer Bewegung, die in den 1990er Jahren aus einer Not geboren wurde: Hohe Preissteigerungen auf dem Zeitschriftenmarkt machten auch den Wissenschaftsjournalen das Überleben schwer. Bibliotheken kündigten ihre Abonnements. Sie konnten sich viele Fachzeitschriften einfach nicht mehr leisten. Dadurch war die Literaturversorgung der Forschenden und Studierenden an den Universitäten in Gefahr.

Die "Open Access"-Bewegung steuerte gegen. Die Idee: Gerade die Fachzeitschriften, aber auch andere Publikationen sollten über das Internet frei verfügbar sein, ohne Kosten für die Nutzer. Die Johannes Gutenberg-Universität Mainz unterstützt diese Initiative. Unter anderem veröffentlichte sie im Jahr 2012 ein "Grundsatzpapier zur Open Access-Policy der JGU".

Der Haken an der Sache: Kosten entstehen weiterhin. Schließlich lässt eine seriöse Fachzeitschrift die eingeschickten wissenschaftlichen Beiträge begutachten und bereitet sie für die Veröffentlichung auf. Die "Open Access"-Verlage erheben dafür Publikationsgebühren, die vom Autor gezahlt werden müssen.

85.000 Euro starker Fonds

"Kosten um die 1.500 Euro sind da realistisch", sagt Brandtner. Das kann für den einzelnen Wissenschaftler durchaus eine Hürde sein. Da aber die JGU und besonders die UB die "Open Access"-Bewegung auch im eigenen Haus fördern will, wurde ein Publikationsfonds eingerichtet, in dem für das Jahr 2013 insgesamt 85.000 Euro zur Verfügung standen. "Drei Viertel davon trägt die Deutsche Forschungsgemeinschaft, ein Viertel die Universität", erklärt Brandtner. Anfang November waren noch 17.000 Euro im Fonds. Er wird also rege genutzt.

Brandtner ist überzeugt, dass dieses Geld gut angelegt ist. "Für eine Universität ist ein Output an qualitätsvollen Publikationen wichtig." Darum hilft die UB auch an einer weiteren Stelle, nämlich bei der Herausgabe von "Open Access"-Zeitschriften. In Kooperation mit der Freien Universität Berlin bietet sie mit "Open Journal Systems" (OJS) ein Zeitschriften-Managementsystem an, das bereits genutzt wird: Das Dolmetscher-Fachjournal TC3 – Translation: Computation, Corpora, Cognition erschien im Januar 2012 erstmals als "Open Access"-Journal und wenig später folgte das International Journal of Literary Linguistics.

Zwar steckt "Open Access" noch in den Kinderschuhen. So werden jährlich rund 2.500 Fachaufsätze von Medizinern und Naturwissenschaftlern der JGU veröffentlicht, davon erscheinen weniger als 10 Prozent in frei zugänglichen Quellen. "Der Trend zeigt aber nach oben", sagt Brandtner. Eine Prognose gehe gar von 90 Prozent im Jahr 2025 aus. Der Direktor ist skeptisch bei solch langfristigen Vorhersagen, aber die Richtung stimme. "Open Access ist gekommen, um zu bleiben", zitiert er einen Fachartikel, der wiederum einen Albumtitel der Band Wir sind Helden zitiert.

Digital soll reichen

Die Veränderungen werden weitreichend sein, davon ist nicht nur Brandtner überzeugt. "Früher hat man eine Bibliothek nach ihrem Bestand beurteilt. 3,5 Millionen Bücher, das klang bedeutend. Heute haben wir die Situation, dass solche Zahlen irrelevant sind für die Informationsversorgung." Für Brandtner ist im Gegenteil sogar ein Bestandsabbau im analogen Bereich ein Erfolg.

"Wir versuchen die Leute dahin zu bringen, dass sie sagen: Digital reicht mir." Die Akzeptanz sei da je nach Fachkultur sehr unterschiedlich. "Geisteswissenschaftler und Juristen setzen zum Beispiel immer noch sehr auf Printerzeugnisse, bei den meisten Naturwissenschaftlern und Medizinern dagegen passiert sehr viel digital."

Die UB will auf lange Sicht eine E-Only-Strategie fahren, auch wenn Brandtner durchaus bereit ist, Fachzeitschriften weiterhin in Papierform zu abonnieren. "Oft werden sie inzwischen ohne Aufpreis zusammen mit der E-Ausgabe angeboten. Die Leute denken dann: Die nehmen wir auch noch, kostet ja nichts. Aber bei uns entstehen durch Lagerung und Verwaltung eben doch Kosten. Das wird oft vergessen."

Schöne neue Räume

Der offene Zugang zu Fachliteratur über das Netz wird in vielen Bereichen spürbar werden. So wird es unter anderem leichter sein, wissenschaftliche Arbeiten auf Plagiate abzuklopfen. Denn nicht nur der menschliche Nutzer, auch die Suchmaschine, die so nützlich bei der Jagd auf Abgekupfertes ist, kann auf die "Open Access"-Veröffentlichungen zurückgreifen.

Eine Herausforderung allerdings wird irgendwann auf Brandtner oder seine Nachfolger zukommen. "Wir werden uns fragen müssen, welche Rolle unsere Bibliothek noch spielen soll, wenn alles übers Netz zugänglich ist." Eine Antwort darauf hat der Direktor: "Wir werden neue Räume schaffen zum Lernen, zum Arbeiten und zum Reden. Wir werden da sehr differenzierte Angebote machen."

Vielleicht sehen diese Räume dann ja aus wie Brandtners Büro: hell, aufgeräumt, mit klaren Linien – und fast ohne Bücher.