Handy-App gewährt Blick hinter den Eisernen Vorhang

24. März 2014

Für das internationale Projekt "Iron Curtain Stories" haben 19 Studierende des Fachs Kulturanthropologie/Volkskunde der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) Erlebnisse und Erfahrungen von Zeitzeugen des Kalten Kriegs zwischen Ost und West gesammelt. Ihre Interviews und einiges mehr sind seit Kurzem auf der Website "Memory of Nations" oder per Smartphone-App verfügbar.

Andreas Schumann wird 1953 in Zwickau geboren. Beruflich scheint es für ihn gut zu laufen in der DDR. 1984 ist er stellvertretender Direktor der Wasserwirtschaftsverwaltung Magdeburg. Dennoch hat er mit der Zeit nur noch ein Ziel vor Augen: die Flucht in den Westen. Am 3. November 1988 ist es soweit. An einem kalten Morgen wandert Schumann durchs Grenzgebiet: "Offiziell, um Stellen für Wasserprobenentnahmen zu finden, inoffiziell, um einen Ort für die Flucht zu finden: Wo könnte ich am besten dieses Gewässer überqueren?"

Schumanns Erzählung ist Teil des internationalen Projekts "Iron Curtain Stories", an dem sich Mainzer Masterstudierende unter Leitung von Juniorprof. Dr. Sarah Scholl-Schneider vom Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz beteiligt haben. Nun, nach knapp einem Jahr, liegen die Ergebnisse fast vollständig vor. Scholl-Schneider und zwei ihrer Studierenden schauen zurück und ziehen eine erste Bilanz.

Arbeit mit internationalen Partnern

"Die Arbeit an solch einem großen Projekt mit internationalen Partnern ist natürlich aufwendig", erzählt Scholl-Schneider. Die tschechische Organisation Post Bellum hatte die "Iron Curtain Stories" als Teil ihres Großprojekts "Memory of Nations" initiiert. Sie fand Unterstützung in der Slowakei, in Ungarn, Rumänien, Kroatien und in Deutschland. "Meist beteiligten sich Institute, die sich mit der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit ihrer Länder beschäftigen. Wir sind der einzige universitäre Partner."

Scholl-Schneider gehörte zu jenen, die für die "Iron Curtain Stories" einen Unterstützungsantrag bei der EU stellten. Nachdem die Gelder bewilligt waren, überlegte die Juniorprofessorin, wie sie die Studierenden einbinden könnte. "Der Reiz bestand darin, dass wir unsere Datenerhebung nicht – wie sonst üblich – nur für die eigene Forschung einsetzen würden, es würde nicht nur eine Trockenübung werden. Mit den Daten würde tatsächlich etwas passieren."

Das brachte natürlich auch eine gewisse Verbindlichkeit mit sich: "Wir mussten am Schluss etwas veröffentlichen, wir waren schon unter Zugzwang." Zu Beginn hatte Scholl-Schneider Bedenken, ob da jeder Studierende mitziehen und die Erwartungen erfüllen würde. "Aber es lief hervorragend."

Auf der Suche nach Zeitzeugen

Die "Iron Curtain Stories" wurden zur Grundlage des ersten "großen" Projekts, dem Herzstück des neuen Masterstudiengangs Kulturanthropologie/Volkskunde an der JGU. Über zwei Semester hinweg führten die Studierenden nicht nur Zeitzeugen-Interviews, sondern arbeiteten sich in das Thema ein, lernten methodische Ansätze kennen und behandelten am Ende einen besonderen Aspekt in ihrer Masterarbeit. Dieses universitäre Forschungsprojekt unter dem Titel "Die biografische Erfahrung des geteilten Europa" umfasste also weit mehr als nur die Arbeit für die "Iron Curtain Stories."

Es galt, Lebensgeschichten rund um den Eisernen Vorhang zu sammeln. Unter anderem suchten die Studierenden per Zeitungsartikel nach Zeitzeugen. "Es war mir wichtig, dass die Gruppe lernt, wie so ein Projekt von A bis Z funktioniert", sagt Scholl-Schneider. "Die Studierenden haben alles selbst in die Hand genommen: von der Suche und der Pressearbeit über die Planung einer Exkursion bis zur Präsentation."

Die Mainzer konzentrierten sich auf Berichte von der deutsch-tschechischen Grenze und der Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik. 23 Interviews kamen zustande – darunter das mit Andreas Schumann. "Die Medialisierung dieser Interviews war eine Menge Arbeit", erzählt Studentin Sophie Reich. Für die Website "Memory of Nations" musste die Gruppe unter anderem Kurzbiografien, Zusammenfassungen und Gesprächsprotokolle liefern. Außerdem galt es, neben aktuellen auch historische Fotos der Zeitzeugen aufzutun.

19 Hausarbeiten zum geteilten Europa

"Zusätzlich sollten wir Audioclips produzieren", so Reich, "denn es gab ja noch ein zweites Medium: die App." Wer zum Beispiel den europäischen Radwanderweg "Iron Curtain Trail" befährt, der heute entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer verläuft, kann sich per Smartphone zu ausgewählten Orten entsprechende Clips der Zeitzeugen anhören. Fluchthelfer und Flüchtende kommen dort zu Wort, aber eben auch an der Grenze Lebende mit ihrem Alltag.

Die Transkripte der vollständigen Interviews füllen 565 Seiten. Aufbauend auf diesem Material entstehen derzeit die Hausarbeiten der Studierenden, die nun kurz vor dem Abschluss stehen und zur Publikation vorgesehen sind. "Wir haben eigene Forschungsfragen entwickelt", erzählt Michelle Gundermann. Manche führen ein Stück von den Interviews weg. So geht es etwa um die Medialisierung der Grenze in Filmen wie "Sonnenallee" oder um die Musik Wolf Biermanns zur Grenzsituation.

Gundermann selbst bleibt mit ihrer Arbeit nah an den Aussagen der Zeitzeugen. Ihr Thema: "Zwei Heimaten nach dem Grenzübertritt – Die Identitätssuche auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs". Sie arbeitete heraus, wie fremd sich Flüchtlinge aus der DDR oft in der BRD fühlten. "Man hat hier nicht recht Fuß gefasst, weil es immer hieß: Die von drüben!", erzählt eine Zeitzeugin. Und Schumann weiß zu berichten: "Es war eine Zeit, in der man am besten versucht hat, Hochdeutsch zu reden, um sich nicht zu outen."

Sammelband und Tagung

Wer sich ein Bild von der Arbeit der Studierenden machen will, kann das über die "Iron Curtain Stories"-App oder auf der Website "Memory of Nations" tun. Darüber hinaus wird demnächst ein Sammelband zum Forschungsprojekt "Die biografische Erfahrung des geteilten Europa" entstehen und für November 2014 ist eine Tagung geplant: "25 Jahre Erinnerung an das geteilte Europa – Musealisierung, Medialisierung, Kommerzialisierung".

Sammelband und Tagung werden das Projekt nicht nur vorstellen und in einen größeren Kontext stellen. Es soll auch darum gehen, diese neue Art, Zeitzeugen medial zu präsentieren, kritisch zu hinterfragen: Wozu führt es, wenn nach und nach solche Zeugnisse massenweise übers Internet zugänglich werden? Wo sind die Chancen, wo die Probleme? Welche Standards wären wünschenswert?