Starkes Stück um schwachen Ritter

30. Oktober 2014

Studierende der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) bringen ein mittelalterliches Heldenepos auf die Bühne des Staatstheaters: "Otnit" erzählt von einem Herrscher ohne Plan, einem schwachen Ritter mit mächtiger Mutter. Die Aufführung ist der Höhepunkt eines innovativen Lehrprojekts, das Prof. Dr. Stephan Jolie ins Leben gerufen hat, um seinen Studierenden Praxiserfahrungen auf verschiedensten Gebieten zu vermitteln.

König Otnit wuselt reichlich desorientiert über die Bühne. Ein großer Held soll er sein. Doch sieht so ein Held aus? Zierlich wirkt er, von Selbstbewusstsein keine Spur. Er will nach Hause. Endlich angekommen vor dem heimischen Hof trifft er seine Minister und flötet höchst unköniglich: "Ich will herein zu Mutter. Ist sie da?"

Eigentlich war zu ahnen, dass dieser König anders ist. Der Bänkelsänger hatte ihn ja entsprechend eingeführt: "Nicht immer scheint uns Otnit zweifelsfrei ein Held zu sein. / Mit fremder Hilfe siegt er und schläft zuweilen ein." Das klang wenig schmeichelhaft. "Wir sehen einen schwachen Ritter, einen Herrscher ohne Plan." Der Bänkelsänger zog den Vorhang beiseite, das Spiel begann.

Ein eigenartiger Held

Prof. Dr. Stephan Jolie vom Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat dem Herrscher ohne Plan sehr planvoll auf die Theaterbühne geholfen – nicht nur in der Rolle jenes Bänkelsängers, sondern vor allem als Initiator. Vor einem Jahr rief der Dekan des Fachbereichs 05: Philosophie und Philologie das Otnit-Projekt ins Leben, das nun in seine letzte Phase tritt. Die große Aufführung im Mainzer Staatstheater steht an, gerade laufen die letzten Proben.

Gemeinsam mit zwei Kollegen gab Jolie das recht unbekannte mittelalterliche Heldenepos "Otnit" neu heraus. Der Band erschien im Jahr 2013 bei Reclam. "Es ist ein so skurriler Text mit einem so eigenartigen Helden", erzählt er. "Vieles daran ist typisch für ein Epos, anderes außergewöhnlich. Ich dachte gleich: Das musst du auf die Bühne bringen, als Puppenspiel oder als Theaterstück."

Der Weg auf die Bühne führte über seine Studierenden. Jolie konzipierte ein auf zwei Semester angelegtes Projektseminar. Hier ging es nicht nur darum, den Text wissenschaftlich zu erarbeiten. Die Studierenden sollten all das erledigen, was nötig sein würde, um den "Otnit" bühnenreif zu machen. Sie sollten praktische Erfahrung in verschiedensten Bereichen sammeln, ob beim Schreiben des Theaterstücks, bei der Arbeit am Bühnenbild oder an den Kostümen. Um jedes Detail sollten sie sich kümmern: um die Kommunikation mit der Presse, um ein passendes Programmheft – und nun stehen einige von ihnen auch noch auf der Bühne. Im Hörsaal P1 im Philosophicum proben sie. Hier findet am 4. November 2014 auch die Premiere statt, bevor es ins Staatstheater geht.

Ein innovatives Lehrprojekt

Leonie Höckbert spielt Ylias, den Bruder von Otnits Mutter. Er ist Waffennarr, sie trägt folgerichtig ein Maschinengewehr aus Plastik. Ein geschminkter Bart schmückt ihre Oberlippe, hinzu kommen grimmige Augenbrauen und breite Koteletten. "Die Ankündigung des Projektseminars war noch etwas vage", erinnert sie sich. "Es hieß, wir beschäftigen uns mit dem Stück. Als mir dann klar wurde, dass wir es aufführen, wollte ich unter den Schauspielerinnen sein." Sie hat den gesamten Prozess miterlebt, schrieb Teile des Skripts. "Alles lief sehr kooperativ, ich habe mich immer super integriert gefühlt in die Arbeit." Seit September probt sie wöchentlich, seit einer Woche täglich.

Jolie reichte sein Otnit-Seminar als "Innovatives Lehrprojekt" beim Gutenberg Lehrkolleg (GLK) der JGU ein. "Ich bekam die höchstmögliche Fördersumme", freut sich der Germanistikprofessor. Damit ließ sich einiges machen. Er holte die Hochschule für Musik der JGU und Prof. Dr. Birger Petersen mit ins Boot. Studierende komponierten in dessen Seminar die Musik zum Stück. Auch die Kommunikationsdesigner der Hochschule Mainz halfen: Prof. Anna-Lisa Schöneckers Studierende erarbeiteten verschiedene Entwürfe. Ausgewählt wurde letztlich das Gestaltungskonzept von Yvonne Kümmel, die neben Plakaten und Flyern auch das Layout des Programmhefts und sogar Getränkedosen entwarf.

Prof. Dr. Stephan Jolie hat bereits Erfahrung mit Inszenierungen ähnlicher Art. Als Mainz im Jahr 2011 durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft in Kooperation mit "Wissenschaft im Dialog" zur Stadt der Wissenschaft gekürt wurde, traten er und seine Studierenden mit dem Minne-Projekt "mainz1184 – Ein Traum von Liebe und Ritterschaft" ins Rampenlicht.

Ein Stück mit Männerthemen

Einige Akteure aus dieser Zeit helfen nun auch beim "Otnit". So haben Thomas Elben und Dominik Schuh die Regie übernommen. Elbens Arbeit begann sogar einen Schritt früher: Er stellte das Skriptteam zusammen und fügte die Beiträge zu einem einheitlichen Ganzen. "Ich konnte beim Schreiben schon die Inszenierung mitdenken, das war ein Vorteil."

Naheliegend wäre gewesen, eine Fantasy-Komödie auf die Beine zu stellen. "Tatsächlich ist es eine Art Dürrenmatt-Stück geworden", sagt Elben. "Es ist eine skurrile Komödie, die so schrecklich wie möglich endet: Der Held wird aus seiner Rüstung gesaugt." – "Bei unserem Budget hätte es nur peinlich gewirkt, wenn wir auf Fantasy oder auf eine historische Fassung gesetzt hätten", ergänzt Schuh. "Maximale Reduktion ist das Beste, was man in so einem Fall machen kann."

"Otnit" ist ein Stück der Männerthemen. Es geht um einen Sohn, der sich nicht von der Mutter lösen kann, um eine übermächtige Vaterfigur und um die Frage: Wann ist ein Held ein Held? Auf der Bühne allerdings stehen abgesehen von dem Dekan als Bänkelsänger nur Frauen: Ausschließlich Studentinnen haben sich für den Schauspieljob gemeldet.

Einige Frauen

Das klingt erst mal nach einem Handicap. Doch Elben treibt diesen Widerspruch noch voran und schlägt Funken daraus. Er hat die Rollen gegen den Strich besetzt. So spielt mit Lisa-Alexandra Henke die zierlichste Akteurin den Helden Otnit. Sie wird weit überragt vom Zwergenkönig Alberich alias Lisa Kissi, dem übermächtigen leiblichen Vater. Weiblich, männlich, groß, klein, mächtig, schwach – mit alldem jongliert das Stück.

Jonglieren ist ganz grundsätzlich angesagt bei diesem Projekt. Im Moment etwa funktioniert die Beleuchtung im P1 noch nicht. Die Tüten, die als Hüllen für die Programmhefte angeliefert wurden, sind schlicht zu klein. Und das Bühnenbild, ein Metallgestell, das wie ein Berg aufragt, muss noch mit Papierbahnen beklebt werden, die mit "Ontit"-Originaltext bedruckt wurden. "Otnit soll aus dem Text springen", meint Schuh, "buchstäblich."

"Wir haben noch viel Arbeit vor uns", sagt Elben. "Aber es ist großartig, wenn man mit Amateuren im besten Sinne arbeitet. Die knien sich richtig rein, jeder begreift sich als Teil des Ganzen." Aus allen Teilen ein rundum stimmiges Ganzes zu machen, sei immer noch eine Herausforderung, doch der Regisseur stellt selbstbewusst fest: "Wenn wir noch zwei Monate Zeit hätten, könnten wir mit diesem Stück sogar auf Tournee gehen, davon bin ich überzeugt. Wir müssen uns nicht verstecken vor den Profis."