Kunst in jedem Winkel

6. Februar 2015

Einmal im Jahr wird die Kunsthochschule Mainz zum riesigen Atelier, zum Ausstellungsraum für ihre Studierenden – und Jahr für Jahr kommen mehr Besucher, um sich die verschiedensten Werke anzusehen, um mit den jungen Künstlern über ihre Arbeiten zu sprechen. Diesmal zeigten 171 Studierende Malerei und Medienkunst, Fotografie und Film, Bildhauerei und vieles mehr.

Ein Leguan kauert auf einem Stück Holz knapp über den Köpfen der Betrachter. Daneben schwebt eine Möwe wie im Flug eingefroren. Unten am Boden gilt es, um ein seltsames Gebilde aus Papier herum zu schreiten. Es wirkt nicht sehr stabil, also Vorsicht!

Zwei Kinder bleiben stehen. Gern würden sie diese Wesen anfassen, sichtbar zucken die Finger. Aber die beiden halten sich zurück. Wer greift schon einfach so nach Kunst? Dabei dürften sie in diesem Fall ruhig tasten und fühlen. "Me Myself and I" von Julia Sammer ist durchaus darauf angelegt.

Die Studentin aus der Bildhauerklasse von Prof. Martin Schwenk hat verschiedenste Materialien in ihrem Ensemble verarbeitet. So besteht der Leguan aus Schaumstoffstücken, die seiner Oberfläche etwas Zerklüftetes geben, die seine Form bei näherer Betrachtung beinahe auflösen und doch sehr überzeugend die Silhouette, die Körperhaltung des Tieres nachzeichnen. Ein länglicher Wischmop bildet die Flügel der Möwe, der Körper ist mit einem Stück Pappe angedeutet. Hier könnten Besucher die Flügel schwingen lassen. Nur von dem Papier am Boden sollten sie die Finger lassen. Wer genau hinschaut, erkennt in dessen Falten einen kauernden Hund. Hier sticht ausnahmsweise zuerst das Material ins Auge, dann folgt das Tier, ganz anders als bei den übrigen Wesen dieser Komposition.

Veränderung und Aufbau

Jeweils zum Ende des Wintersemesters lädt die Kunsthochschule Mainz zu ihrem traditionellen Rundgang ein. Vier Tage lang zeigen diesmal 171 Studierende ihre Werke. "Dies ist für uns ein sehr wichtiges Ereignis", so Prof. Dieter Kiessling bei der Eröffnung der großen Schau, "gerade in einer Zeit, in der wir uns in einer Veränderung befinden." Der Rektor betont, dass seine Schule im Aufbau begriffen ist. Beides – Veränderung und Aufbau – sei nötig, "um uns auf Stand zu halten und auf internationale Strömungen zu reagieren".

Eine dieser Veränderungen zeigt sich darin, dass die Klassen der Kunsthochschule nicht mehr so sehr im traditionellen Sinne zugeschnitten sind. Sie teilen nicht streng zwischen Bildhauerei oder Malerei, Foto oder Film. "Unsere Professorinnen und Professoren zeichnen sich durch künstlerische Positionen aus, die sich nicht dadurch definieren, dass ein bestimmtes Medium benutzt wird", erklärt Kiessling. "Es geht eher um Standpunkte und Sichtweisen, die sehr multimedial umgesetzt werden. Das ist hoch spannend."

Diese mediale Liberalität spiegelt sich in Schwenks Bildhauerklasse. Die Vielfalt überrascht. Nur einen Raum von Sammers Arbeit entfernt hängt die kleinformatige Bilderserie von Rieke Köster. Kristalle sind zu erkennen, zwischen denen Gedärme und Gehirnwindungen ganz eigene organische Strukturen bilden. Die Studentin ist zurückhaltend, wenn es um einer Interpretation geht. "Sagen Sie doch besser selbst, was Sie sehen", meint sie. "Ich will mit meinen Bildern einfach eine kleine Welt aufmachen."

Gedärme und Kristalle

Verschiedene Strukturen verbinden sich miteinander. Der Betrachter darf frei assoziieren. Die Windungen aus Darm und Hirn wirken keinesfalls abstoßend. Beinahe schon bekommen sie einen dekorativen Charakter, gerade wenn sie sich zu dunklen Ketten verdichten. "Dort funktionieren sie ähnlich wie Schmuck", meint Köster. Organisches und Anorganisches ist im Spiel miteinander vereint.

Es ist leicht für die Besucher, an den Werken einer Klasse hängen zu bleiben. Jeder Studierende zeigt etwas sehr eigenes. "Für uns war es schwer, die Ausstellung zu gestalten", erzählt Köster. "Wo platzieren wir die Werke im Raum?" Keines sollte ein anderes verdecken oder in den Schatten stellen. Daran arbeiteten die Studierenden tagelang, um im Anschluss ihren Gästen über vier Tage lang Rede und Antwort zu stehen. "Anstrengend ist das schon." Aber spannend eben auch.

Auf einer großen Leinwand ist der Innenraum einer Kirche zu sehen: links die Orgel und rechts die Kanzel, auf der Jesus in einer jener Stellungen verharrt, die in der Kunst so häufig tradiert werden. Er schaut zum Himmel, die rechte Hand ist verhalten gehoben, der Zeigefinger reckt sich leicht gebeugt empor. Dann plötzlich kommt Bewegung in diesen Jesus. Er greift zur Gitarre und spielt den Blues ... Benjamin Schäfer aus Kiesslings Medienkunst-Klasse hat dieses Werk geschaffen.

Vielfalt und Verzweiflung

In einem hohen, lichtdurchfluteten Raum hängen großformatige abstrakte Gemälde. Verena Erfle aus Prof. Winfried Virnichs Klasse für Malerei zeigt eine Szene in Blautönen, die durch eckige Strukturen etwas Räumliches bekommt. Davor ragen in Weiß und Lila Striche wie Balken in die Höhe.

In einem abgedunkelten Raum steht ein Tisch mit drei Ablagen: "Unwichtig", "Unerheblich", "Unwesentlich". Davor ein Stempelkissen neben einem Stapel Papier. Geisterhaft bewegen sich Hände über die Tischplatte, stempeln Dokumente und ordnen sie ein. Das eine, der Tisch mit den Utensilien, ist tatsächlich vorhanden, das andere ist eine filmische Projektion. Beides kombiniert Max Klink aus der Filmklasse von Prof. Dr. Harald Schleicher in seinem Werk "abgestempelt".

Ein wenig müssen die Besucher verzweifeln an dieser Vielfalt. Es gibt schlicht zu viel zu sehen und nichts lässt sich im Vorbeigehen erkennen. In jeder Ecke, jedem Raum lauert eine Überraschung. Dazu bietet die Kunsthochschule ein Rahmenprogramm mit Führungen und Präsentationen. So wird ein Kunstband versteigert und verlost: Unter dem Titel "Buchprojekt 42" ist wieder ein Kunstkompendium mit allerlei Originalen der Studierenden entstanden.

Der Andrang ist nicht nur hier groß. Jahr für Jahr strömen mehr Neugierige zum Rundgang in die Kunsthochschule Mainz. Das, was hier zu sehen ist, lässt sich unmöglich in vier Tagen und schon gar nicht in einem Text fassen. Es bleibt das Staunen angesichts dieser ständig neuen Eindrücke. Selbst auf der Heizung im Gang lauert Kunst. Dem kann sich niemand entziehen.