Die Maus, der Dichter und der Tanz

1. Dezember 2015

Die Sammlung Clemens Brentano erlaubt einen intimen Einblick in das Leben und Umfeld eines großen Dichters der Romantik. Neben Hunderten von Beispielen reger Briefwechsel finden sich Gedichtentwürfe und Haushaltspläne, Schauspielskizzen und Zeichnungen. Bewahrt wird die Sammlung, die 1950 an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) kam, in der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Mainz.

Diese Nacht dürfte Clemens Brentano lange in Erinnerung geblieben sein. Das Bett war unbequem, die Beine schliefen ihm ein. Eine Skizze zeigt den Dichter auf der Schlafstatt. Dazu schreibt er an Susanne Schinkel: "Da ich morgens meine Beine vermißte [sic], entdeckte ich sie endlich durch eine Maus, die mich in die Ferse biß [sic]." Brentano, lediglich in eine "chemise allemande" gehüllt, sprang aus dem Bett und legte einen wilden Tanz aufs Parkett. Eine "Arie à la Schmalz", nennt er die unfreiwillige Darbietung. "Ich zeichne Ihnen meine Haubtstellungen [sic] hier auf", fügt er an. Es folgt eine Bilderstrecke beinahe wie aus einem Cartoon, mit der sich der Romantiker tüchtig selbst auf die Schippe nimmt.

"Das passt so gar nicht zu dem üblichen Bild des ernsten Brentano", meint Karen Stuckert, die den Brief eben aus einem blütenweißen Umschlag aus säurefreiem Papier gezogen und vorsichtig aufgeschlagen hat. Das Dokument aus dem Jahr 1811 zeigt Altersspuren, scheint aber in einem guten Zustand. Dieses Autograph ist Teil der Sammlung Clemens Brentano, die Eigentum der Universitätsbibliothek Mainz (UB) ist, jedoch wie alle Handschriften und Autographen im Jahr 1997 als Dauerleihgabe an die Stadtbibliothek ging.

Sechs hermetisch gesicherte Archivschuber

"Wir unterstützen die Sammlung gern mit unserem Know-how für alte Dinge", so Dr. Annelen Ottermann, stellvertretende Amtsleiterin der Stadtbibliothek und Leiterin des Bereichs, der für Handschriften, alte Drucke und die Erhaltung des Bestands verantwortlich zeichnet. "Und wir nehmen diese Unterstützung gern an, zumal unsere Universitätsbibliothek auf dem Campus vorrangig eine Gebrauchsbibliothek ist", ergänzt Stuckert, die seitens der UB für die Sammlung zuständig ist.

Sechs Archivschuber enthalten die gesamte Autographensammlung. Sie stehen auf zwei Regalbrettern in einem schmalen, aber schier endlos langen, hermetisch gesicherten Raum der Stadtbibliothek. Hier ruhen sie zwischen Sondersammlungen und bis zu 1.000 Jahre alten Handschriften. "Täuschen Sie sich nicht über den Umfang", merkt Ottermann angesichts der relativ wenigen Kisten an. "In so einen Karton passt viel hinein." Einen hebt sie heraus und nimmt ihn mit in den Lesesaal, um zu zeigen, welche Schätze er birgt.

Im Grunde ist die Sammlung Zeugnis eines Scheiterns. Der Aschaffenburger Großhändler Franz Johann Dessauer wollte in seiner Heimatstadt ein Brentano-Museum gründen. Also trug er um das Jahr 1928 herum mit Unterstützung des Verlegers Paul Pattloch Handschriften aus dem Umfeld des Dichters zusammen. Vor allem Briefe an Brentano verleibte er seiner Sammlung ein. Der größte Teil stammt aus dem Nachlass seiner Schwester Bettina von Arnim, der 1929 in Berlin zur Versteigerung kam. Aber es gibt auch viele Autographen von Brentano selbst – wie jenen Brief, den er an Susanne Schinkel schrieb, die Ehefrau von Karl Friedrich Schinkel, den wichtigen Baumeister und Architekten des deutschen Klassizismus.

Gedichte, Zeichnungen, Kritzeleien

Der Zweite Weltkrieg machte dem Traum vom Museum ein Ende. Das Aschaffenburger Brentano-Haus, in dem der Dichter 1842 verstarb, wurde 1945 zerstört. Immerhin überlebte die Sammlung in den Panzerschränken der Buchhandlung Pattloch. "Sie wurde von einem Arzt in Saarbrücken gekauft, bevor sie in den Besitz der Universität kam", berichtet Stuckert. Die Neugründung der JGU im Mai 1946 zog einige Schenkungen und gezielte Ankäufe nach sich, die den Aufbau der jungen Universität unterstützen sollten. "Aschaffenburg im Mainzer Oberstift war kurmainzisch", erklärt Ottermann. "Diese Verbindung wird auch eine Rolle bei der Kaufentscheidung gespielt haben."

Hunderte von Autographen haben überlebt. Einige liegen nun auf dem Tisch im Lesesaal. "Ich finde es spannend, dass die Menschen damals diese Blätter für alles Mögliche verwendet haben", sagt Stuckert und präsentiert ein gefaltetes Stück Papier im DIN-A3-Format.

Gedichtentwürfe des Lyrikers Brentano sind darauf zu erkennen. Immer wieder hat er Passagen durchgestrichen. Seine Schrift auf diesem Blatt ist von Laien kaum zu entziffern. Selbst Ottermann, die einige Routine mitbringt, stößt hier und da an ihre Grenzen. "Mit Gott ...", liest sie stockend, dann muss auch sie zweimal hinschauen.

Klar zu erkennen allerdings sind Kritzeleien zwischen den Strophen. Es wirkt, als hätte der Dichter innegehalten und gedankenverloren ein paar Linien aufs Blatt geworfen. Die Bleistiftzeichnung einer Frau mit Kopfbedeckung ist ebenfalls auszumachen. Und auf der Rückseite entdeckt Stuckert den Beginn eines Theaterstücks. "1. Akt" ist deutlich zu lesen. Dann wir es wieder schwierig.

Briefe begreifen

Zu forschen gäbe es hier einiges und tatsächlich wird die Sammlung immer wieder eingesehen. "Wir haben zwar keinen rasanten Andrang, aber den einen oder anderen zieht es schon hierher", sagt Ottermann. "Es ist einfach etwas Besonderes, solche Autographen anzufassen. Der Mensch ist ein sinnliches Wesen und alles, was er begriffen hat – buchstäblich be-griffen –, das bleibt hängen."

Tatsächlich gibt es viel zu be-greifen in der Sammlung: den Brief Brentanos an Rahel Varnhagen etwa, deren Berliner Salon um 1800 eine große Rolle spielte. Das feine Büttenpapier weist ein Wasserzeichen auf, das der Dichter säuberlich frei ließ. Diesmal ist seine Schrift entschieden besser zu entziffern: "Warum schreiben Sie nicht, verehrte Rahel, sind Sie krank? Ihr Schreiben an mich war so hastig und so oft von Klagen über Übelbefinden unterbrochen ..." Oder wie wäre es mit einem Fan-Brief Brentanos an Ludwig van Beethoven? "Lieber, sehr geliebter Beethoven! Sie sind mir durch einzelne Äußerungen Ihrer Kunst in meinem Leben ein so lebendiger und ewiger Trost …"

"Seit Februar 2015 ist unsere Sammlung vollständig digitalisiert", erzählt Stuckert. Jeder kann nun über die Visual Collections-Homepage der Universitätsbibliothek Mainz oder den Verbundkatalog Kalliope schauen, was für Schätze sie bietet. Dennoch lohnt sich der Weg in die Stadtbibliothek. Solch einen Brief im Lesesaal vor sich zu haben, den Fettfleck zu sehen oder den feien Riss, das energisch durchgestrichene Wort oder das Selbstporträt des Dichters im deutschen Hemd, das ist noch mal eine ganz andere Erfahrung als der Besuch im Netz.