Wenn der beste Freund der Computer ist

7. Januar 2016

Sie verdaddeln ihr Geld an Glücksspielautomaten oder versinken am PC in fantastischen Welten, soziale Netzwerke lassen sie nicht mehr los und Online-Auktionshäuser ziehen sie magisch an: Was als harmloses Hobby beginnt, kann zur Leidenschaft werden und in einer alles bestimmenden Abhängigkeit enden. Computerspiel-, Internet- und Glücksspielsucht sind Krankheiten. In der Ambulanz für Spielsucht an der Universitätsmedizin Mainz werden sie erforscht, behandelt und im besten Fall verhindert.

Die Trennung vom Avatar fällt schwer. "Für viele ist er ein guter Freund geworden", erzählt Prof. Dr. Dipl.-Psych. Manfred E. Beutel. "Andere Freunde gibt es manchmal schon gar nicht mehr." Der Spieler hat sein Alter Ego im Netz liebevoll hochgepäppelt, hat es mit Fähigkeiten ausgerüstet, damit es in der Onlinewelt bestehen kann. "So ein Avatar ist oft ein mächtiges, beeindruckendes Wesen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Spieler 10.000 oder mehr Stunden damit verbringt, diese zweite Identität zu erschaffen."

"Wir haben so viel miteinander erlebt." Diesen oder ähnliche Sätze hört der Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Mainz immer wieder von spielsüchtigen Patienten. Aber es führt kein Weg daran vorbei: "Sie müssen sich von ihrem Avatar verabschieden. Das ist Teil unserer Therapie."

Nicht jeder, der sich intensiv in eine Onlinewelt vertieft, ist gleich süchtig. "Wir reden hier von Spielzeiten von meist mehr als acht Stunden täglich und zwölf Stunden pro Wochenendtag", erläutert Dr. Klaus Wölfling, psychologischer Leiter der Ambulanz für Spielsucht an Beutels Klinik. Doch selbst das genügt noch nicht, um die Sucht definitiv zu diagnostizieren. Weitere Faktoren müssen hinzukommen. So verlieren die Süchtigen die Kontrolle darüber, wann sie spielen und wann nicht. Davon loslassen können sie schon gar nicht. Der Drang, in die Onlinewelt einzutauchen, ist so groß, dass ihr berufliches und persönliches Umfeld leidet. Das Spiel wird zum beherrschenden Faktor. Es bestimmt die gesamte Gefühlswelt, es beherrscht das Leben.

Sabine M. Grüsser-Sinopoli Ambulanz

Seit 2008 kümmert sich die Sabine M. Grüsser-Sinopoli Ambulanz für Spielsucht nicht nur um solche Fälle, sondern um Verhaltenssüchte insgesamt. 500 bis 600 Computerspiel-, Internet- oder Glücksspielsüchtige werden hier Jahr für Jahr diagnostiziert, beraten oder therapiert. Die Ambulanz ist Vorreiter auf diesem Gebiet und wichtiger Partner bei verschiedensten internationalen Studien.

Benannt wurde sie nach ihrer Initiatorin, Prof. Dr. Grüsser-Sinopoli, die im Jahr 2007 an die Universitätsmedizin Mainz berufen wurde. Grüsser-Sinopoli hatte viele Jahre auf dem Gebiet der Verhaltenssüchte geforscht, nun wollte sie ein umfassendes Therapieangebot in Mainz aufbauen. "Sie hatte eine ganze Gruppe dafür mitgebracht", erzählt Beutel. "Aber dann starb sie völlig unerwartet." Ihr großes Projekt wurde fortgeführt. Im März 2008 öffnete die Mainzer Ambulanz zur Behandlung von Computerspiel- und Internetsucht unter ihrem Namen.

Die Ambulanz hat viel zu bieten – so viel, dass Wölfling und Beutel allenfalls skizzieren können, was alles geschieht. Wölfling kommt direkt von einem Termin mit einer glücksspielsüchtigen Patientin. Er hat eine Spielhalle mit ihr besucht. Diese Konfrontation gehört fest zur letzten Phase der Behandlung. "Die Patienten zeigen oft Wut und Trauer", erzählt der Diplompsychologe. Im konkreten Fall hatte die Patientin mit schweren Schweißausbrüchen zu kämpfen.

Ob Computerspieler oder Glücksspielerin, die Therapien ähneln sich. "In einer ersten Phase stellen wir eine Motivation her, gegen die Sucht zu arbeiten", berichtet Beutel. "Die Patienten lernen, sich selbst zu beobachten und Zusammenhänge zwischen ihrer Sucht und anderen Faktoren herzustellen. Dann bauen wir andere Aktivitäten wieder auf. Die Patienten lernen, über ihre Gefühle zu sprechen und Selbstwertgefühle zu entwickeln. Gerade die angesprochenen Avatare sind ja mächtig und stark, der Spielsüchtige fühlt sich dagegen schwach."

Abschied von der Spielhalle

Am Ende werden die Patienten mit dem Onlinespiel oder der Spielhalle konfrontiert. Sie verabschieden sich vom Ort der Sucht und bekommen Strategien mit auf den Weg, die einen Rückfall zumindest unwahrscheinlicher machen. "Nach 15 Gruppen- und mehreren Einzelsitzungen, also nach drei, vier Monaten, erzielen wir in der Regel gute Behandlungserfolge. Mindestens zwei Drittel der Patienten profitieren sehr von der Therapie."

Parallel dazu läuft die Forschung. Die Therapien der Internet- und Computerspielsüchtigen etwa sind Teil der Studie "Short-term Treatment of Internet and Computer Game Addiction" (STICA), die im Programm Klinische Studien von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Sie widmet sich den Wirkmechanismen der verhaltenstherapeutischen Behandlungen. Beteiligt sind unter der Leitung der Mainzer Mediziner auch Kolleginnen und Kollegen in Mannheim, Tübingen und Wien.

"Wir haben das Problem, dass wir die Therapien von Internet- und Computerspielsüchtigen nicht abrechnen können", erzählt Beutel. Da hilft die Finanzierung über STICA. In Sachen Glücksspiel ist das anders, hier zahlt die Deutsche Rentenversicherung, die für Suchtprobleme zuständig ist. "Aber Internet Gaming Disorder ist überhaupt erst seit Ende 2013 als Krankheitsbild im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders aufgeführt", so Beutel. Es braucht noch Überzeugungsarbeit, bis diese Verhaltenssucht überall als solche anerkannt und entsprechend behandelt wird.

Dabei ist klar, dass die Symptome dieselben sind wie bei einer substanzabhängigen Sucht. "In einer EEG-Studie haben wir gezeigt: Bei exzessivem Computerspiel wird das Belohnungssystem genauso umprogrammiert wie bei anderen Süchten." Der Elektroenzephalograf zeigt im Hirn ganz ähnliche Vorgänge.

Breite Palette an Angeboten

Auffällig ist, dass vor allem Männer wegen Verhaltenssucht in Therapie gehen. Gerade mal 15 Prozent sind Frauen. Wölfling ist allerdings vorsichtig bei der Interpretation dieser Zahlen. "Es kann durchaus sein, dass eine Internetsucht bei einer Frau unter dem Etikett einer Depression oder einer anderen Erkrankung behandelt wird. Frauen bekennen sich eher zu solch einer Störung und weniger zu einer Sucht. Bei Männern ist das umgekehrt."

Die Ambulanz für Spielsucht hält eine ganze Palette an Angeboten für die Betroffenen und ihre Angehörigen bereit. Sie bietet eine Hotline, kann Patienten in Gruppen oder einzeln, ambulant oder in der Klinik behandeln – und sie ist auch in der Prävention aktiv. "Wir haben zum Beispiel eine Gruppe für 12- bis 16-Jährige, in der wir ein besonderes Medientraining anbieten", sagt Wölfling. "Wir nennen diese Gruppe bewusst Trainingsgruppe. Das Wort 'Sucht' vermeiden wir." Unterstützt wird dieses Projekt von der Stiftung Herzenssache e.V.

Doch nicht nur auf Jugendliche, auch auf Kinder schauen die Psychologen. Beim EU-Projekt "Nutzung neuer elektronischer Medien 0- bis 8-Jähriger" ist die Ambulanz als deutscher Partner des Joint Research Center dabei. "Wir erfassen den elektronischen Medienkonsum von Kindern in dieser Altersgruppe", erklärt Wölfling. "Wir befragen die Eltern, gehen aber auch mit den Kindern durchs Haus und lassen uns die elektronischen Geräte zeigen. Wir fragen, welche sie nutzen."

Es stellte sich heraus, dass Zweijährige durchaus schon ins Smartphone tippen, und mit drei ist das Kinderspiel auf dem Tablet bereits ein Thema. "Wir wollen das erst einmal beschreibend erfassen", so Wölfling. "Aber natürlich werden wir im nächsten Schritt weitere Fragen stellen: Wie verhalten sich zum Beispiel Menschen, die mit PC-Spielen aufgewachsen sind?" Könnten hier ganz früh schon Wurzeln wuchern für eine spätere Sucht?

Die Antwort darauf muss noch warten. Derweil kümmern sich Beutel, Wölfling und das Team der Sabine M. Grüsser-Sinopoli Ambulanz für Spielsucht um die, die sich mit therapeutischer Unterstützung von ihren lieb gewonnenen Avataren verabschieden oder in der Spielhalle ein letztes Mal schwitzend vor den Automaten stehen.