Dichten gegen Klischees

12. Januar 2016

Nach nur einem Jahr auf der Bühne ist Artem Zolotarov im Oktober 2015 zum rheinland-pfälzischen Poetry Slam-Meister gekürt worden. Der 26-Jährige hatte bereits einiges ausprobiert in seinem Leben, bevor er beim Schreiben landete – und an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Zolotarov studiert Europäische Literatur und Germanistik.

Einer seiner Freunde ist Moslem. "Er kommt aus Afghanistan und hat mir viel von seinem Glauben erzählt", sagt Artem Zolotarov. "Bei uns in Deutschland wird ja meist sehr kritisch und sehr negativ über den Islam berichtet. Die Leute wissen nicht viel darüber und das, was sie wissen, ist nicht gut. Er hat erzählt, was für eine reiche Religion der Islam ist, wie friedlich sie ist." Das hat Zolotarov zu seinem Gedicht "Sprengstoff" inspiriert:

Er spricht deutsch und seine Träume sind so deutsch wie das Wort Traum.
Und was seine Eltern sprechen, unter sich, versteht er kaum.
Doch sein Vater spricht Gebete, jeden Tag kniet er sich hin.
Er lebt einen fernen Glauben, dieser gibt ihm Lebenssinn.
Und er sagt, dass dieser Glaube Frieden, Liebe propagiert.
Du darfst keine Fliege töten, ganz egal, was auch passiert.

"Ich bin kein politischer Mensch. Politik hat mich nie interessiert, weil ich nie die Sicht hatte, dass ich damit etwas ändern könnte. Aber das Gedicht wurde politisch, weil es anders nicht ging. Der Islam ist heute einfach ein politisches Thema."

Und so sieht er viele Männer lange schwarze Bärte tragen.
Sie sind freundlich und sie scherzen, antworten auf seine Fragen.
Bis ihr Lachen ganz verschwindet, als die beiden Türme stürzen.
Terror, Angst und Propaganda Menschlichkeit und Freundschaft kürzen.

Der Blick der Deutschen auf den jungen Mann, der über seinen betenden Vater staunt, der eine ihm fremde Religion zaghaft entdeckt, schnurrt nach den Attentaten vom 11. September 2001 schlagartig zusammen. Ein Feindbild entsteht, das nichts mehr mit dem Menschen zu tun hat.

Und in Deutschland hat er jetzt kein Gesicht, nur schwarze Haare.
Seine Stimme riecht nach Sprengstoff, ohne nur ein Wort zu sagen.
Er steht unter Tatverdacht, weil er einen Glauben hat,
der missbraucht und pervertiert wird bei jedem Attentat.

Im Oktober 2015 ist Artem Zolotarov zum rheinland-pfälzischen Poetry Slam-Meister gekürt worden. Dass der 26-Jährige mit seinen ernsten, sehr engagierten Versen die Meisterschaft gewonnen hat, verwundert. "Die meisten versuchen es mit witzigen Texten. Die haben eine direktere Wirkung und bekommen sofort Lacher." Darauf setzt Zolotarov nicht.

"Ich glaube, dass ich mit meinen Geschichten etwas bewirken kann. Vielleicht nicht direkt – aber wenn Menschen meine Zeilen lesen oder hören, verändert sich etwas in ihren Köpfen. Es kommt nicht darauf an, dass sich die Masse verändert. Ich will jeden einzelnen Menschen ansprechen. Ich finde es schön, wenn jemand nach einem Slam zu mir kommt und sagt: 'Das hat mich berührt.'"

Aus der Ukraine nach Deutschland

Zolotarov ist in der Ukraine geboren. Als er neun war, ging seine Familie nach Deutschland. "Ich kam in die dritte Klasse und stand dann da. Alles, was ich auf Deutsch sagen konnte, war: 'Guten Tag, meine Name ist Artem.' Es war am Anfang nicht so einfach, aber ich habe schnell gelernt. Kinder lernen ja überhaupt sehr schnell."

Für Zolotarovs Schreiben ist dieser Hintergrund wichtig. "Es hat mir sehr geholfen, dass Deutsch keine Selbstverständlichkeit für mich ist. Ich schaue einfach genauer darauf, wie Worte zusammengesetzt sind. Ich achte auf Klangbilder. Deutsch ist eine sehr harte und sehr weiche Sprache zugleich. Dadurch, dass ich von einer anderen Sprache her darauf schauen kann, habe ich vielleicht einen Sinn bewahrt für ganz kleine Feinheiten, die man sehen muss, um mit einer Sprache umgehen zu können."

Nach dem Abitur probierte Zolotarov vieles aus. "Ich habe unter anderem Maschinenbau studiert und bei einer Videofirma gearbeitet." Mit dem Scheiben begann er 2010. "Ich habe gemerkt, dass es mir eine Richtung gibt, einen Weg, auf dem ich gehen will, ohne dabei ein direktes Ziel vor Augen zu haben."

Studium und Slam

Im selben Jahr begann Zolotarov mit dem Studium an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Er schrieb sich für Europäische Literatur und Germanistik ein. "Ich wollte mein Wissensgebiet erweitern, neue Literaturrichtungen kennenlernen. Das Studium soll kein Mittel zum Zweck meines Schreibens sein, aber es ist sicher eine gute Ergänzung." Bald steht die Bachelorarbeit an. "Vielleicht vergleiche ich die deutsche mit der amerikanischen Slam-Szene. In Amerika sind die Slam-Texte meist ernst, sehr kritisch und politisch. Bei uns herrschen witzige Beiträge vor. Ich will herausfinden, warum das so ist."

Zolotarov stellte seine Texte zuerst ins Internet. "Ich bekam sofort positive Resonanz. Auf dieser Plattform hatte ich schnell Erfolg." Nun ging es darum, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. "Ich sagte mir, wenn ich besser werden will, muss ich viel schreiben, am besten täglich."

Im Jahr 2014 entdeckte er den Poetry Slam für sich: Autorinnen und Autoren stellen sich einem Publikum. Sie haben einige Minuten Zeit, um mit ihren Texten zu überzeugen. Dann entscheiden die Zuhörer, wer den Slam gewinnt. "Die Poetry Slam-Szene ist sehr offen, die Reaktion auf die Texte sehr direkt."

Von einfachen Wahrheiten

Sicher kommt es auf Inhalte an beim Slam, aber auch der Klang spielt eine große Rolle – und Zolotarovs Gedichte gewinnen hier sehr. Dass er am Klang feilt, an den feinen Tönen der Sprache, das wird bei seinen Auftritten deutlich.

Gerade hat Zolotarov ein Buch herausgebracht: "Bühnenbilder" versammelt 16 Texte, 15 davon trägt er bei Poetry Slams vor. Meist handeln sie von Menschen, die in irgendeiner Weise an den Rand gedrückt werden, von Klischees und Etiketten, mit denen Gruppen versehen werden.

"Je komplexer die Welt wird, desto schwieriger ist es, den Überblick zu behalten. Einfache Wahrheiten geben da Halt. Man verliert ein bisschen die Angst." Aber man verliert eben auch den Blick auf die Menschen. In "Gut und Böse" nimmt Zolotarov dieses Problem aufs Korn. "Ich parodiere das vereinfachte Denken", sagt er. "Ich treibe es auf die Spitze und zeige so das Absurde ..."

Ich bin der Wirtschaftsasylant,
ich mach mich breit in deinem Land (…)
Ich nehm dir deine Arbeit ab,
weil ich ein bessres Zeugnis hab (…)

Ich bin das Böse in der Welt,
damit dein Weltbild Halt behält.
In Schwarz und Weiß, in Gut und Böse,
auf dass das Simple uns erlöse.
Der Tellerrand ist gut bekannt,
dahinter endet der Verstand.

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