Kreativität statt sturem Einschleifen

29. Januar 2016

Sein Ansatz des differenziellen Lernens sorgte im Spitzenfußball für Schlagzeilen: Der FC Barcelona trainierte nach seinen Methoden, Pep Guardiola holte sich Anregungen von ihm und auch Thomas Tuchel nahm einiges mit – ob als Trainer beim 1. FSV Mainz 05 oder bei Borussia Dortmund. Tatsächlich aber bietet Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn vom Institut für Sportwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) mehr als nur neue Strategien fürs Fußballtraining. Hinter dem differenziellen Lernen steckt eine Philosophie, die alle Lebensbereiche berührt.

"Ich habe eigentlich nichts anderes gemacht, als mir meine kindliche Neugierde und meine Kreativität zu bewahren", meint Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn. Das klingt erst mal nicht besonders aufregend. Doch es sind genau diese beiden Eigenschaften, die im traditionellen Sport nicht gefragt sind. Dort geht es vor allem um die Wiederholung des immer Gleichen, um das Einschleifen festgelegter Bewegungsabläufe.

Dagegen wendet sich der Professor für den Arbeitsbereich Trainings- und Bewegungswissenschaft am Institut für Sportwissenschaft der JGU vehement. "Unsere Auffassung vom Lernen ist vom Militär und von der Kirche geprägt", konstatiert Schöllhorn. "Die Kirche war ursprünglich zuständig für das Unterrichten. Sie vermittelte Wissen, aber insbesondere ging es darum Bibelpassagen auswendig zu lernen. Die Menschen sollten ständig die eine Wahrheit wiederholen und in einen meditativen Zustand versetzt werden. Der Cortex, das Großhirn, wird dabei ausgeschaltet." Nachdenken war nicht gefragt, ein Abweichen von der Lehrmeinung schon gar nicht.

Training für Pferde

"Das Wort 'Training' wird 1856 erstmals im Brockhaus erwähnt. Es bezieht sich auf das Abrichten von Pferden fürs Militär. Training ist also ursprünglich für Pferde konzipiert." Ziel war es, alle Pferde und auch die Soldaten in Gleichschritt zu bringen. "Der deutsche Sport hat seine Wurzeln im Turnen, von der Turnbewegung. Die Übungen von Turnvater Jahn aber waren als militärisches Trimmen gegen die Franzosen gedacht."

Kirche, Militär und Sport propagierten eine Form des Lernens, die mit Kreativität nichts zu tun hatte. Abweichungen galten als falsch und bedrohlich für die Ordnung in der Gemeinde, im Regiment oder auf dem Sportplatz.

Schöllhorn war als Leistungssportler erfolgreich. Der Diplomsportlehrer machte sich als Trainer in verschiedensten Sportarten einen Namen. So gingen in den 1980er- und 1990er-Jahren internationale Spitzenathleten durch seine Schule. "Im Grunde genommen habe ich das differenzielle Lernen damals bereits praktiziert und es hat funktioniert. Mir fehlte nur noch eine Theorie dazu." Also machte er sich auf die Suche. Schöllhorn studierte Physik, Neurophysiologie und Pädagogik – und alle drei Disziplinen lieferten Bausteine zur Theorie des differenziellen Lernens.

Wiederholung vs. Variation

"Wiederholung hat ganz massiv mit Sicherheitsbedürfnis zu tun. Was machen wir, wenn wir unsere Kinder ins Bett bringen? Wir lesen ihnen Geschichten vor, deren Ausgang sie schon kennen. Das Gefühl der Sicherheit entsteht, weil sie wissen, was als nächstes kommt. Es wird wiederholt, damit es Sicherheit bringt."

Lernen funktioniert völlig anders. "Wir lernen durch Variation. Kinder lernen Sprache am besten durch Musik, durch Lieder. Lieder aber sind ein Variieren von Sprache. Eine Darmstädter Kollegin hat festgestellt, dass Sprachen am besten gelernt werden, wenn man sie parallel mit anderen abwechselt. Allerdings sollten sie aus einer Sprachfamilie stammen, also zum Beispiel Italienisch, Spanisch, Französisch. Auch in der Biologie ist der Erfolg von solch einem Zickzack-Lernen gezeigt worden." Der ständige Wechsel, die Abweichung aktiviert den Cortex. "Zum Glück haben unsere Kinder, selbst wenn sie nur etwas wiederholen, noch genug Schwankungen drin, um auch daraus etwas zu lernen."

Die Abweichung von der Norm ist also kein Übel, sondern eine Chance. "Wir reden beim differenziellen Lernen auch nicht von Fehlern, sondern von Schwankungen. Den Begriff kennt man aus der Physik und der Chemie. Es geht darum, von einer Stabilität in eine andere zu kommen." Das soll auch beim Lernen passieren. Fehler dürfen sogar verstärkt werden, das führt zu einem neuen selbstorganisierten Zustand, einer neuen Perspektive, neuen Erkenntnissen. "Schauen Sie sich große Manager an. Sie sind nicht groß geworden, weil sie keine Fehler machten, sondern weil sie daraus gelernt haben."

Differenzielles Lernen versetzt das Gehirn in einen optimalen Lernzustand. "Wir haben das mit Schülerinnen und Schülern versucht. Sie sollten vor dem Unterricht Seilspringen." Allerdings nicht im herkömmlichen Sinn: Sie sollten ständig andere Körperstellungen ausprobieren. "Ich hatte den Eindruck, sie warteten regelrecht darauf." Ähnliches initiierte Schöllhorn beim Volleyball: "Sie sollten bei jedem Aufschlag ein anderes Tier nachahmen."

Problem mit dem Neuen

Der Ansatz funktioniert. Nach solchen Übungen lernt es sich besser. 1999 veröffentlichte Schöllhorn seine grundlegenden Forschungsergebnisse. Seitdem greift das differenzielle Lernen um sich, auch wenn es Hindernisse zu überwinden gab. "Besonders die Deutschen haben ein Problem mit Neuerungen. Und für so manchen Pädagogen und Psychologen ist es ja auch nicht leicht zu sagen: 'Sie haben Recht mit dem differenziellen Lernen.' Das würde ja bedeuten, dass sie die letzten 40 Jahre einiges falsch gemacht haben. Es fällt schwer, sich das einzugestehen."

Im Arbeitsbereich Trainings- und Bewegungswissenschaft an der JGU laufen verschiedenste Forschungen zusammen. Auch differenzielle Möbel sind mittlerweile entstanden. Eine ganze Auswahl steht in Schöllhorns Büro. Ein Klavierhocker etwa gibt keinen festen Halt, sondern beugt seine Sitzfläche in alle Richtungen und begünstigt so den Stellungswechsel. "'Setz dich ordentlich und ruhig hin!' heißt nichts anderes als 'Hör auf zu lernen!'", sagt Schöllhorn.

Mit dem Hocker zeichnen sich signifikant bessere Ergebnisse beim Klavierspiel ab. "Sänger und Jazzer wissen längst, wie wichtig das Variieren auch in der Musik ist. Im Bereich der klassischen Instrumentalmethodik hat man bislang noch ein Problem damit."

Nicht ohne Probleme geht es auch im Sport zu. Die Tradition des Einschleifens wirkt weiterhin stark. Dabei widerlegen die detaillierten Bewegungsanalysen am Mainzer Institut für Sportwissenschaft diesen Ansatz. "Über Jahre hinweg haben wir Bewegungen biomechanisch genau ausgemessen. So gelang es uns verschiedene Athleten anhand eines Bodenkontakts beim Gehen wiederzuerkennen. Selbst grobe Emotionen können wir im Gangmuster ausmachen und zum Beispiel sehen, welche Musik wie den Gang ändert. Es ändert sich ständig etwas."

Jenseits großer Schlagzeilen

Kein Athlet macht identische Würfe, keiner wiederholt genau dieselbe Bewegung. "Unsere traditionelle Annahme ist: Das System bleibt immer gleich. Aber Natur ist etwas anderes. Wir merken das vor allem als Kinder und im Alter. Spitzensportler spüren es jeden Tag." Das muss auch fürs Training heißen: Keine Übungseinheit ist gleich, alles ändert sich.

"Mein Ziel ist es, mit differenziellem Lernen mehr aus dem Gehirn und dem Körper herauszuholen." Damit hat Schöllhorn Erfolg. Deswegen schauen unter anderem prominente Trainer wie Pep Guardiola oder Thomas Tuchel auf diese Methode.

"1999 hat noch jeder darüber gelacht, heute verkaufen es viele als Kreativitätstraining", meint Schöllhorn lächelnd. Er nimmt es gelassen. Denn auch wenn es die großen Schlagzeilen fürs differenzielle Lernen vor allem im Spitzenfußball gab, so ist doch längst klar, dass es nicht nur um eine Trainingsmethode geht. Es geht um eine Philosophie, die an den Grundfesten des traditionellen Lernens rüttelt – und das im wahrsten Sinne des Wortes: Denn wer braucht schon Grundfeste, wenn alles im Fluss ist?