"Erinnern ist das wahre Vergessen"

29. April 2016

Im zweiten Teil seiner Vorlesungsreihe "Psychologie und Gehirn: Zur Innenansicht des Menschen" widmete sich Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Onur Güntürkün dem "Lernen und Erinnern". Der Inhaber der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur 2016 lud sein Publikum im voll besetzten größten Hörsaal der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) auf eine Reise ins menschliche Gehirn ein.

Zuerst erscheint das Gehirn in Gesamtansicht auf der Leinwand. "Ich möchte mit Ihnen in dieses Gehirn eindringen", kündigt Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Onur Güntürkün an. Das nächste Bild zeigt die graue und die weiße Substanz des Gehirns, ein weiteres die Schichtung der Hirnrinde. Das reicht dem Stiftungsprofessor aber noch lange nicht. Er muss noch weiter hinein, noch näher heran.

Blau eingefärbte kleine Körnchen sind nun auszumachen. "Das sind die Nervenzellkörper." Dazwischen scheint reichlich weiße Fläche zu bleiben. "Sie werden sich sagen: Hier ist viel Platz verschwendet worden. Aber die Hohlräume zwischen den Zellkörpern sind in Wirklichkeit gar keine Hohlräume." Die Aufnahme eines Elektronenmikroskops enthüllt, dass die weißen Flächen tatsächlich angefüllt sind mit den Verästelungen der Nervenzellen, mit ihren Dendriten und Axonen, die sich in den Synapsen treffen. "Es gibt in unserem Gehirn keinen freien Platz. Es ist pickepackevoll mit Nervenzellen."

10 Billiarden Aktivierungen pro Sekunde

Die Verbindungsstellen zwischen den Neuronen, die Synapsen, sind der Dreh- und Angelpunkt. "Im Moment bin ich dabei, Ihre Synapsen zu verändern, denn das ist die einzige Möglichkeit für mich, am nächsten Tag noch in ihrem Gehirn präsent zu sein."

Die Vortragsreihe "Psychologie und Gehirn" des 17. Inhabers der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur trifft an der JGU und weit darüber hinaus auf ungeheures Interesse. Bereits bei Güntürküns Antrittsvorlesung konnte der größte Saal auf dem Campus die Interessierten nicht fassen. Deswegen war nun für eine Übertragung nach draußen gesorgt worden, wo sich Menschentrauben bildeten. "Ich fühle eine enorme Verantwortung, dass der Abend gut und spannend wird", meint der Stiftungsprofessor dazu.

Vom "Lernen und Erinnern" erzählt Güntürkün diesmal. Er begibt sich auf die Spur des Gedächtnisses: "An die 100 Milliarden Nervenzellen enthält das menschliche Gehirn. Sie sind über rund eine Billiarde Synapsen miteinander verbunden. In jeder Sekunde unseres Lebens gibt es ungefähr 10 Billiarden Aktivierungen in unserem Gehirn."

Wie entsteht dabei Gedächtnis? Güntürkün greift zwei Nervenzellen heraus. "Wenn sie gemeinsam aktiv sind, stärkt das ihre synaptische Koppelung. So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie in Zukunft wieder gemeinsam aktiv werden."

Koalition der Nervenzellen

Der Biopsychologe liebt anschauliche Beispiele. "Stellen Sie sich vor, in Ihrem Haus findet ein Umzug statt. Sie sind zwar nicht neugierig, schauen aber doch alle drei Minuten nach. Dann stellt sich Ihnen der junge Mann, der einzieht, als Marc Müller vor. Später sehen sie den jungen Mann weit entfernt im Supermarkt wieder und denken: Ah, das ist Marc Müller, der bei uns eingezogen ist. Eine Bahnung hat stattgefunden zwischen zwei Elementen."

Güntürkün räumt ein: "Das hört sich trivial an. Es ist aber eigentlich genial. Das Gehirn muss in der Lage sein, sich aus seiner eigenen Aktivität heraus zu verändern." Gene etwa könnten in ihrer beschränkten Zahl unmöglich all das veranlassen, was im Gehirn vorgeht, denn ununterbrochen verändert sich die Struktur des Gedächtnisses. "Die Welt erzählt uns, wie unser Gehirn sich verdrahten muss."

Es bilden sich Koalitionen von Nervenzellen, und diese Koalitionen wechseln ständig. "Sie müssen sich das wie ein Parlament vorstellen. Die Abgeordneten Frau Müller und Herr Meier stimmen gemeinsam für etwas Wichtiges: für die Erhöhung der Hundesteuer." Eine halbe Stunde später aber ist Herr Meier in einer anderen Sache anderer Meinung als Frau Müller. Koalitionen wechseln, ihre Zusammensetzung ändert sich, sie wachsen und schrumpfen.

Vom Vergessen

"Ich zeige ihnen diese Flasche hier. Sehen Sie die Flasche? Das ist super. Alle erinnern sich, wie ich diese Flasche gehoben habe. Sie erinnern sich an den Ort, die Zeit, die Gegebenheit, daran, wer ich bin." Doch jede dieser Teilinformationen ist in einer anderen Nervenzellen-Koalition festgehalten. "Der Hippocampus ist zuständig dafür, dass die verstreut in unserem Gehirn abgelegten Erinnerungen abrufbar sind." Der Hippocampus, so benannt, weil er in der Form entfernt einem Seepferdchen ähnelt, weiß nicht um die Details einer Erinnerung. "Aber er weiß, wo die Adressen sind im Cortex." Er führt die Elemente zusammen. "So erinnern wir uns an Begebenheiten."

Wie aber vergessen wir Dinge wieder? "Eine Möglichkeit ist, dass die Koalitionen von Zellen zerfallen." Die ehemaligen Koalitionäre engagieren sich in anderen Koalitionen. Die einstige Koalition wird kleiner, ihre Verbindungen schwächer und schwächer. "Eine zweite Möglichkeit ist der Zelltod. Jeden Tag verlieren wir 60.000 Nervenzellen und eine Million Synapsen. Jedes Mal verlieren wir damit Träger von Informationen. Es bleiben Fragmente von Erinnerungen, die wir nicht mehr wachrufen können. Sie sind wie rostige Autos in der Wüste."

Zuletzt wendet sich Güntürkün einem überraschenden Punkt zu. Es geht ihm darum, "wie wir uns an Dinge erinnern, die nie passiert sind". Der Biopsychologe sagt: "Es ist eine traurige Realität, dass ein Teil unsere Biografie nie stattgefunden hat."

Von falschen Erinnerungen

Manfred und Wolfgang treffen sich nach Jahren auf einer Tagung wieder. Sie kennen sich noch aus der Studienzeit, hausten im selben Studentenwohnheim auf demselben Flur. Sie beschließen sich nun öfter zu sehen. Bei einem der Treffen meint Wolfgang: "Das war doch verrückt, wie wir uns wieder getroffen haben bei dieser Tagung, und dann kam auch noch Ute vorbei, die ebenfalls damals auf unserem Flur wohnte. Manfred meint dagegen: "Ute war doch gar nicht da." Doch Wolfgang insistiert. Manfred grübelt: War Ute vielleicht doch da?

"Je mehr und mehr Sie überlegen, desto mehr Erinnerungen kommen hoch, dass Sie Ute gesehen haben." Beim Erinnerungsversuch koppeln sich Nervenzellen aneinander, ihre synaptische Verbindung wird gestärkt. "Ute" und die "Tagung" gehen nun eine Koalition ein.

"Wir haben keine echte Erinnerung an unser Leben, wir haben immer nur eine interpretierte Erinnerung. In dem Moment, wo Sie sich an Ihren ersten Schultag erinnern, ist ihre Erinnerung nicht mehr sicher." Die synaptischen Verbindungen verändern sich und damit die Erinnerung. "Die beste Art zu vergessen ist, sich an sein Leben zu erinnern", schließt Güntürkün. "Erinnern ist das wahre Vergessen."