Wenn das Gedächtnis zerfällt

5. Mai 2016

In der dritten Vorlesung seiner Reihe "Psychologie und Gehirn: Zur Innenansicht des Menschen" begrüßte Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Onur Güntürkün, Inhaber der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur 2016, seinen Bochumer Kollegen Prof. Dr. Nikolai Axmacher als Gastredner an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Der Neuropsychologe sprach über "Das zerfallende Gedächtnis", über Vergessen und Verdrängen, über Traumata und die Alzheimer-Erkrankung.

Es ist der dritte Abend mit Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Onur Güntürkün als Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessor – und wieder platzt der größte Hörsaal der JGU aus allen Nähten. "Ich muss leider ein wenig als Spaßbremse wirken", verkündet Univ.-Prof. Dr. Georg Krausch noch vor Beginn der Veranstaltung. Der Universitätspräsident ist hier Hausherr. "Qua Amtes bin ich für Ihre Sicherheit verantwortlich", meint er und wendet sich an die Gäste auf den Treppen. "Sie müssen wenigstens eine Spur hinterlassen, die als Fluchtweg erkennbar ist." Nur zögerlich weichen die Neugierigen. Der ein oder andere verlässt den Saal, denn immerhin ist draußen eine Leinwand aufgebaut, die Güntürküns Vorlesungsreihe überträgt.

"Ich bin jedes Mal mehr überrascht von den Menschen und ihrem Interesse für die Wissenschaft", meint Güntürkün lächelnd. Tatsächlich stößt seine Vorlesungsreihe "Psychologie und Gehirn: Zur Innenansicht des Menschen" in Mainz auf ein ungeheures Echo. Diesmal hat der Bochumer Biopsychologe einen Gast mitgebracht. Der Neuropsychologe Prof. Dr. Nikolai Axmacher vom Institut für Kognitive Neurowissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum ist gekommen, um über "Das zerfallende Gedächtnis" zu sprechen.

Das Selbst geht verloren

"Nikolai hat die Fähigkeit, Lern- und Gedächtnisprozesse auf einer Ebene zu untersuchen, die großartig ist", lobt Güntürkün den Kollegen. "Zielgenau untersucht er Prozesse, die auf neuronaler Ebene angesiedelt sind, und verfolgt sie bis zu den Symptomen." Von dieser Arbeit möchte Axmacher einen Eindruck vermitteln.

"Gedächtnisstörungen greifen ganz grundlegend in unsere Persönlichkeit ein", so der Gastredner. "Wenn die Erinnerung an unsere eigene Lebensgeschichte verloren geht, kann man sagen, dass unser Selbst verloren geht." Der Neuropsychologe schlägt innerhalb gut einer Stunde einen weiten Bogen vom Vergessen über das Verdrängen bis hin zu Trauma und der Alzheimer-Erkrankung.

"Warum vergessen wir überhaupt etwas?", fragt Axmacher. "Wir haben doch so viele Nervenzellen." Oft sind Gedächtnisspuren schlicht nicht mehr auffindbar, obwohl sie grundsätzlich noch vorhanden sind, oder sie haben sich einfach nicht genügend stabilisiert. Sie können sogar aktiv gelöscht werden. Das beweisen Experimente. "Es ist möglich, Gedächtnisinhalte willentlich zu unterdrücken." Der Laterale Präfrontale Cortex spielt dabei eine große Rolle. "Er ist dafür verantwortlich, dass sich die Aktivität im Hippocampus als Zentrum des Erinnerns vermindert." Das Vergessen ist im Grunde eine alltägliche Angelegenheit.

Ähnlich ist es mit dem Verdrängen. Hier wird das Gedächtnis bewusst unterdrückt. "Unser Leben ist von Konflikten geprägt, nicht nur interpersonell, sondern auch intrapsychisch." Gerade die Konflikte innerhalb der eigenen Psyche wiegen schwer, "weil wir sie selbst lösen müssen". Dabei geht es zum Beispiel um den Konflikt zwischen Nähe und Distanz oder Konflikte rund um das individuelle Selbstwertgefühl.

Von der Couch ins Experiment

Sigmund Freud machte die Verdrängung zum zentralen Begriff der Psychoanalyse, Axmacher holt sie auf die Ebene des Experiments: Probanden durchlaufen einen mehrstufigen Assoziationstest. Unter anderem werden ihnen Sätze präsentiert und sie sollen sagen, was ihnen spontan dazu einfällt. Bei negativ besetzten Sätzen kommen die Assoziationen verzögert. Bei späterer Nachfrage können sich die Probanden auch schlechter an diese Assoziationen erinnern.

"Der Anteriore Cinguläre Cortex ist für die Konfliktverarbeitung verantwortlich", fasst Axmacher die Erkenntnisse zusammen. "Mehr Aktivierung im ACC führt zu Aktivitätsminderung im Hippocampus." So wird Erinnerung verdrängt. "Diese Verdrängung lässt sich mit experimentalpsychologischen Methoden nachweisen." Damit ist das Phänomen von Freuds Couch ins Labor gewandert.

Weit weniger alltäglich als Vergessen und Verdrängen ist das Trauma. Es geht um die Erinnerung an belastende Ereignisse von außerordentlicher Bedeutung. "Mehr als 50 Prozent aller Menschen erleben ein Trauma, leiden darunter, aber erkranken meist nicht. Acht Prozent allerdings entwickeln mindestens einmal in ihrem Leben eine posttraumatische Belastungsstörung."

Posttraumatische Belastungsstörungen

Oft ist die bewusste Erinnerung an das Trauma beeinträchtigt. Es zeigen sich körperliche Symptome und geistige Anomalien bis hin zu Flashbacks. "Die Traumata können fast halluzinatorischen Charakter haben. Es ist, als ob das Trauma hier und jetzt im Hirn stattfindet."

Posttraumatische Belastungsstörungen kommen zustande, wenn zwei Systeme nicht mehr miteinander in Verbindung stehen: die willentlich abrufbare Erinnerung einerseits und die situativ zugängliche Erinnerung andererseits. Therapien zielen darauf hin, die Gedächtnisinhalte zu reaktivieren. "Man überführt sie in einen instabilen Zustand, wo sie modifiziert werden und in erträglicherer Form wieder abgespeichert werden können."

Zuletzt widmet sich Axmacher einem extremen Fall des zerfallenden Gedächtnisses, der Alzheimer-Erkrankung. Mit 65 Jahren leiden zwei Prozent der Menschen darunter, mit 75 sind es schon sechs und mit 85 sogar 20 Prozent. Alzheimer führt zu Gedächtnisverlust und räumlicher Desorientierung. Zwischen den Hirnzellen bilden sich sogenannte Plaques, in den Zellen finden sich Eiweißverklumpungen. Aufnahmen zeigen ein geschrumpftes Hirn und ein Loch dort, wo der Hippocampus sitzen sollte, das Zentrum der Erinnerung.

Alzheimer-Früherkennung

Die Früherkennung von Alzheimer steht derzeit im Zentrum der Forschung, denn je früher die Erkrankung entdeckt wird, desto Erfolg versprechender sind Therapien, die ihren Verlauf verlangsamen. Axmacher stellt eine Möglichkeit vor, die bereits bei Menschen im Alter von Mitte 20 angewandt werden kann, falls sie eine genetische Disposition für Alzheimer mitbringen.

Mithilfe von funktioneller Magnetresonanztomografie wird der Entorhinale Cortex untersucht. In ihm befinden sich Rasterzellen, die beim Navigieren im Raum helfen. Sie bilden ein sechsfach rotationssymmetrisches Muster, weisen also Achsen in sechs Richtungen auf. Bei Tests, in denen es darum geht, auf dem PC-Bildschirm Objekte in einer Arena zu finden, sind diese Rasterzellen sehr aktiv. Bei Menschen mit genetisch erhöhtem Alzheimer-Risiko allerdings zeigen sich einige dieser Achsen instabil und der Hippocampus übernimmt einen Teil der Arbeit. "Das scheint eine ganz frühe Auffälligkeit zu sein", so Axmacher.

Am Ende seiner Vorlesung beantwortet der Neuropsychologe viele Fragen. Das Publikum präsentiert Fälle, wünscht Ratschläge – und manchmal sogar Ferndiagnosen. Das allerdings kann und will Axmacher an diesem Abend nicht leisten. Er hat über die neueste Forschung in diesem Bereich berichtet. Mehr ist angesichts Hunderter Wissbegieriger im größten Hörsaal auf dem Gutenberg-Campus auch nicht möglich.