Der Campus im Jahr 2116

18. Juli 2016

Mit "In Zukunft:Mainz" riefen das Staatstheater Mainz, die Hochschule Mainz und die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) ein ambitioniertes Projekt ins Leben, das die Chancen und Gefahren der Zukunft mit verschiedensten Mitteln auslotete. Abschließender Höhepunkt der Veranstaltungsreihe war "Der performative Kongress" auf dem Gutenberg-Campus.

Störgeräusche dringen in die Enklave RheinMain-Megacity. "Achtung, das Draußen singt wieder", verkündet eine Stimme aus den merkwürdig altmodischen Kopfhörern. Die Stimme beruhigt: "Es gibt nichts zu befürchten. Das System kümmert sich um Sie." 25 Kongressbesucherinnen und -besucher schreiten voran, berieselt vom systemeigenen "Kongressradio Oase". Geführt von einem emotionslosen Roboter und begleitet von merkwürdigen jungen Frauen mit Bärten gehen sie weiter zur nächsten Station. Alles ist gut. Alles ist in Ordnung. Das Jahr 2116 hat Großes zu bieten, besonders hier auf dem Campus der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, wo die Exzellenzcluster unermüdlich für eine schöne neue Welt forschen.

Dies ist der Höhepunkt des groß angelegten Stadtprojekts "In Zukunft:Mainz". Beim abschließenden "performativen Kongress" auf dem Gutenberg-Campus sollen all jene Fäden zusammenlaufen, die zahlreiche Akteurinnen und Akteure über die vergangenen rund drei Monate hinweg gesponnen haben. Sie zogen Verbindungslinien durch Mainz und das nähere Umland, führten zu Initiativen und Institutionen verschiedenster Couleur und verbanden nicht zuletzt Menschen in einem umfassenden Netzwerk.

Komplexes Projekt

Es ging darum, die Zukunft auszuloten – und das mit verschiedensten Mitteln. Dafür hatten sich das Staatstheater Mainz, die Theaterwissenschaft der JGU und der Fachbereich Gestaltung der Hochschule Mainz zusammengetan. Sie fanden viele Unterstützer für ihr Mammutprojekt, darunter den Kultursommer Rheinland-Pfalz, die Stiftung Mainzer Theaterkultur und die Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz.

"Man braucht lange, um dieses Projekt zu erklären", räumt Dr. Annika Wehrle vom Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft an der JGU ein. "Aber wir wollten eine gewisse Komplexität aufrechterhalten. Hätten wir die Darstellung zu sehr vereinfacht, wären die Vielfalt und die Widersprüchlichkeiten verloren gegangen."

Das Stadtprojekt über kommende Zeiten und Visionen der Gegenwart setzte sich durch. "Von Wochenende zu Wochenende hat sich mehr herumgesprochen, was wir unter dem Dachbegriff 'In Zukunft:Mainz' zu bieten hatten", erzählt Wehrle. Es begann mit einer Begrünung des Tritonplatzes neben dem Theater. Ein "Futurfest" präsentierte Diskussionen, Performances, Vorträge und einiges mehr. Von hier aus wurde in der Folge der Stadtraum erkundet und bespielt.

Die beiden Projekt-Kuratorinnen, Dr. Annika Wehrle und Malin Nagel, Dramaturgin am Staatstheater, formulierten programmatisch eine Reihe von Fragen: "Wo stehen wir jetzt? Welche Entwicklungen zeichnen sich gegenwärtig in Mainz ab? Was sind unsere Ängste, unsere Hoffnungen, unsere neuen Realitäten? Welche Stadt wollen wir in Zukunft sein? Und wer überhaupt ist dieses 'wir'?" Künstlerinnen und Künstler, eine Schar von Fachleuten, Schauspielerinnen, Schauspieler und Studierende machten sich auf die Suche nach Antworten und auch neuen Fragen. Sie zogen das Publikum in das Projekt mit hinein.

RheinMain-Megacity

"Wir haben sehr heterogene Formate dargeboten", berichtet Wehrle. Je ein Wochenende war einem von vier umfassenden Themenkomplexen gewidmet: Wert, Ressourcen, Technik und Zusammenleben. Jeder Samstag begann mit Workshops, es folgten eine Fahrradtour, ein Picknick, ein Vortrag und ein Gastspiel. Flüchtlingsbewegungen kamen ebenso zur Sprache wie Zukunftstechnologien oder die Forderung nach einer Teilhabe an Entscheidungsprozessen.

Und dann ging es zum Finale an die JGU, zum "performativen Kongress" im futuristischen Jahr 2116. Die Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer waren zum Audiowalk über den Campus eingeladen. "Herzlich willkommen zum Kongress", zwitschert eine Dame im futuristisch anmutenden Kostüm. "Haben Sie dieses Forschungszentrum gut gefunden?" Sie erklärt jedem Gast die Funktionen der bereitliegenden Kopfhörer. Dies sind die akustischen Nabelschnüre zu dem ominösen System, das alles unter Kontrolle hat und für alles Sorge trägt.

Ein "Vorfall" hat vor Jahrzehnten die Welt verändert. Das Ökosystem wurde verwüstet. Milliarden Menschen starben, einige Millionen fanden Zuflucht in acht Enklaven, die sich vom bedrohlichen "Draußen" abgrenzen. Eine davon ist die Megacity RheinMain, durch deren Forschungszentrum die Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer nun wandeln.

Die Universität von 2016 wird zur fremden Welt auf diesem Rundgang. Bekannte, aber auch verborgen liegende Orte verwandeln ihr Gesicht. Der Botanische Garten mutiert zum Zentrum für Organoplastische Botanik. Bereits vor dem "Vorfall" hatten genmanipulierte Pflanzen den universell verwendbaren Kunststoff Organoplast geliefert. Hier nun wird mit den wenigen Überbleibseln gearbeitet und experimentiert.

Verwandelte Orte

Es ist eine Installation entstanden, die den universitären Garten 100 Jahre in die Zukunft führt. Wehende Plastikplanen verwandeln eine Pergola in einen verwirrenden Parcours, Plastikkissen liegen im Weg. Das Material drängt sich an die Körper der Besucherinnen und Besucher, während das "Kongressradio Oase" per Kopfhörer von den Fortschritten auf organoplastischem Gebiet schwärmt. Zwar erklingen zwischendurch immer wieder diese Störgeräusche aus dem "Draußen", aber: "Es gibt nichts zu befürchten. Das System kümmert sich um Sie."

Sieben Stationen durchlaufen die Kongressteilnehmer und -teilnehmerinnen: Das Institut für Molekulare Biologie (IMB) ist nun das ZEUS, das Zentrum für Epigenetische Umstrukturierung, und die Gipsabgüsse antiker Statuen im Keller des Philosophicums werden Teil des "Memoseums", des Zentrums für Selbstreflexion.

An jedem der Orte wartet eine Performance aufs Publikum. Studierende schlüpfen in verschiedene Rollen, um als Handlanger des Systems die herrlichen Erkenntnisse zu preisen. Zwischendurch vermitteln die Kopfhörer ein wildes Potpourri an Radioformaten inklusive Werbespots und der immer wiederkehrenden Beruhigung: "Das System kümmert sich um Sie."

Keim dieses bedrückend beeindruckenden Audiowalks war das "Szenische Projekt" der Theaterwissenschaften der JGU. "Das Studium ist ja eher theoretisch", so Wehrle, "aber hier können die Studierenden praktisch tätig werden. Sie können sich mit ihren Ideen einbringen. Es gibt kein starres Entwicklungskonzept."

Zukunftsnetz für Mainz

Gemeinsam mit Sara Ostertag, Regisseurin, Choreografin und Theaterpädagogin am Staatstheater Mainz, gab Wehrle den Rahmen vor. Sie suchten auf dem Campus nach geeigneten Stationen, die sich bespielen lassen würden. Ostertag und Wehrle skizzierten zudem die Geschichte um die Enklave und das System. Studierende der Universität und der Hochschule Mainz bildeten Gruppen, um die ausgesuchten Orte in Teile der Enklave zu verwandeln. So wurde ein Raum des Universitätsarchivs zum Genderchiv, dem Institut für angewandte DeGenderisierung. Hier konnte sich das Publikum frei machen vom lästigen Geschlecht und all seinen Normen – wie die begleitenden Frauen mit ihren Bärten.

"Dass unser Projekt so groß geworden ist, hat sich sehr organisch ergeben", erzählt Wehrle. Nach und nach sei "In Zukunft:Mainz" zu einem umfassenden Projekt herangewachsen. Der performative Audiowalk, der insgesamt zwölfmal angeboten wurde, repräsentierte eher die düsteren Facetten einer möglichen Zukunft, andere Aktionen wie die Zukunftsgespräche am selben Wochenende schlugen optimistischere Töne an. "Genau in dieser Spannung lag der Reiz."

Der Erfolg des Stadtprojekts wirft nun die Frage nach einer Fortführung auf. "Ich glaube, in dieser komplexen und dichten Form war das ein Ereignis, das jetzt einfach vorbei ist", sagt Wehrle. "Jetzt wollen wir erstmal auswerten und genau schauen, was da alles entstanden ist. Aber es gibt schon Anschlussideen. Wir als Team wollen das auf keinen Fall fallen lassen. Wir würden gern ein Zukunftsnetz für Mainz mit stärken."