US-Expedition ins deutsche Bildungssystem

10. August 2016

Im Zuge des Programms "Education in Germany – a Multi-Faceted System" kamen 15 Lehrkräfte aus den USA für zwei Wochen nach Mainz, um hier das deutsche Schulsystem kennenzulernen. Sie erlebten eine Vielfalt, mit der sie so nicht gerechnet hätten. Ausgerichtet wurde das Programm von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) in Zusammenarbeit mit der Fulbright-Kommission.

"Eine Tafel und Kreide – so etwas habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen", meint Robert B. Snidman verwundert. "Hier in Deutschland gibt es das tatsächlich noch in den Klassenräumen. Bei uns stehen überall Computer und es wird erwartet, dass wir sie im Unterricht einsetzen." Snidman unterrichtet "American Government" an der Ladue Horton Watkins High School in St. Louis, Missouri, in den USA. Um seinen deutschen Gesprächspartnern zu erläutern, was das für einen Schule ist, greift er zur Vereinfachung: "Sie können das ungefähr mit der deutschen Gesamtschule vergleichen."

"The lack of technology" ist auch dem Geschichtslehrer Robert M. Coven von der Cary Academy in Cary, North Carolina, aufgefallen. "Ich lehre an einer unabhängigen Privatschule." Er setzt sie in etwa mit dem deutschen Gymnasium gleich. "Die Cary Academy wurde von einer Softwarefirma gegründet. Da ist die Erwartung, dass wir Computer nutzen, natürlich noch mal höher."

Tafel oder Computer?

Beide sind sich nicht so sicher, ob moderne Medien unbedingt immer förderlich sind für einen guten Unterricht. Manchmal stünden sie schlicht im Weg. "Eine einfache Tafel eröffnet mir Möglichkeiten, die bei einem Whiteboard oder einem Computer wegfallen", sagt Snidman. "Aber wir sollen unbedingt moderne Medien nutzen. Vor allem Eltern fordern das."

Coven und Snidman sind zwei von 15 US-amerikanischen Lehrkräften, die in diesem Jahr am Programm "Education in Germany – a Multi-Faceted System" teilnehmen. Es gewährt schulischen Lehrkräften aus den Vereinigten Staaten einen möglichst differenzierten Einblick ins deutsche Bildungssystem. Organisiert wird der zweiwöchige Aufenthalt von der Geschäftsstelle des Zentrums für Lehrerbildung (ZfL) und der Abteilung Internationales der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Zusammenarbeit mit der deutsch-amerikanischen Fulbright-Kommission, die allgemein den Austausch amerikanischer und deutscher Studierender, Lehrerinnen und Lehrer sowie Professorinnen und Professoren fördert.

"Die von Fulbright eingesetzte Auswahlkommission hat sehr darauf geachtet, eine möglichst große Bandbreite an Lehrkräften auszuwählen", erzählt Marcel Hüttel, der Mitglied eben jener Kommission war und Teil des Teams der Geschäftsstelle des ZfL ist, das die Gruppe betreut und begleitet. Alle Altersstufen und Schularten sind vertreten, zudem kommen die Lehrerinnen und Lehrer aus 14 verschiedenen US-Staaten.

Voller Stundenplan

Der Stundenplan der Gäste aus den USA war gut gefüllt. Sie besuchten sieben Schulen der Region. Die Palette reichte vom Gymnasium über die Gesamt- und Grundschule bis zur Förderschule. Hinzu kam mit dem Industrie-Institut für Lehre und Weiterbildung Mainz eG (ILW) und dem Staatlichen Studienseminar Bad Kreuznach zwei weitere Bildungseinrichtungen. Auch Vorträge zu bildungsrelevanten Themen wie Inklusion oder universitärer Lehrerbildung standen an. Daneben blieb dann noch ein wenig Zeit für Ausflüge, Museumsbesuche und eine original rheinhessische Weinprobe.

Gerade haben Snidman, Coven und Co. das ILW besichtigt, eine überbetriebliche Ausbildungsstätte für Metall- und Elektroberufe. Es ging durch Säle mit Schweißgeräten, Fräsmaschinen, elektronischen Bauteilen und Computern. Sie sahen Gesellenstücke von Auszubildenden: ein Minihubschrauber aus Stahl oder das funktionierende Modell einer industriellen Bandstraße erregten Aufsehen.

Immer war das Handy gezückt, um Details aufzunehmen, und Nachfragen gab es reichlich. ILW-Teamleiter Daniel Kitz erklärte bereits vieles in seinen Ausführungen, aber es gab immer doch noch ein Detail, das die Lehrkräfte genauer erklärt bekommen wollten. Auch ILW-Geschäftsführer Manuel von Vultejues stand zur Diskussion bereit – wie alle Schulleiterinnen und -leiter, deren Einrichtungen auf der Besuchsliste standen.

Von Vultejus nutzte die Gelegenheit zum Plädoyer für das zweigliedrige Bildungssystem mit all seinen Möglichkeiten und seiner Flexibilität. Für ihn gibt es nicht den einen Königsweg, der von der Grundschule über das Gymnasium zur Universität führt. Er stellt gleichwertig die Realschule mit anschließender Lehre und Berufsausbildung daneben. "Wer bei uns einen guten Abschluss macht, kann sich später immer noch entscheiden zu studieren. Die Leute, die das tun, sind dann wirklich gut."

Kein starres System

"In den USA nehmen viele an, das deutsche Bildungssystem sei sehr starr", erzählt Snidman. "Mit elf Jahren müssen die Kinder wählen: Entweder geht es in Richtung Studium oder in Richtung Berufsausbildung. Das gilt dann fürs gesamte weitere Leben. So ist das Klischee. Aber wir erfahren hier etwas völlig anderes."

"Mich erstaunt, wie weit sich der Staat verantwortlich fühlt für die verschiedenen Bildungsangebote, wie er die Infrastruktur aktiv gestaltet", ergänzt Coven. "Gerade das Berufsbildungssystem ist sehr interessant, weil es das bei uns so praktisch nicht gibt. Wir verstehen Schule vor allem im akademischen Sinn." Und der Geschichtslehrer fährt fasziniert fort: "Alle Schulleiterinnen und Schulleiter, die wir getroffen haben, stehen begeistert für ihre jeweilige Schule ein. Sie präsentieren uns ihre Schulform als die jeweils beste."

Die zwei Wochen in Mainz sind nun beinahe vorüber. Es waren zwei Wochen mit reichlich Programm. "Für mich war es genau richtig", sagt Snidman. "Wenn ich mir überhaupt noch etwas wünschen könnte, dann wäre es, eine deutsche Schulklasse zu erleben, die zu den Themen meines Fachs unterrichtet wird. Wo ich erfahre, was die Schülerinnen und Schüler hier über die amerikanische Regierung, über den amerikanischen Staat lernen." Ähnlich geht es Coven: "Eine Geschichtsstunde wäre nicht schlecht, vielleicht eine über den Amerikanischen Bürgerkrieg. Aber solche speziellen Wünsche sind schwer erfüllbar bei 15 verschiedenen Lehrkräften." Dennoch werden die Leiterin der Geschäftsstelle des ZfL, Christina Kölsch, und ihr Team prüfen, inwiefern auch Klassenbesuche zukünftig realisiert werden können. Denn dies war aller Voraussicht nach nicht das letzte Mal, dass ein solches Programm von der JGU ausgerichtet wurde.

Bibel-Besuch

Vieles geht Snidmann und Coven durch den Kopf, vieles werden sie mitnehmen. "Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass manchmal jemand mit türkischer Herkunft, auch wenn derjenige schon in der dritten Generation hier lebt, immer noch als 'Türke' bezeichnet wird. Dabei ist diese Person mehr Deutscher als ich Amerikaner bin. Auch meine Vorfahren sind vor gar nicht so langer Zeit eingewandert, aber niemand sieht mich als polnisch oder als russisch."

Am Nachmittag geht es noch ins Gutenberg-Museum, das hat sich die Gruppe einmütig gewünscht. Am letzten Tag stehen dann ein Termin mit der US-Botschaft und ein Vortrag zu den deutsch-amerikanischen Beziehungen durch die Amerikanistik der JGU an.

Mit Blick auf den anstehenden Museumsbesuch hat Marcel Hüttel noch eine Frage: "Sie haben in Amerika doch selbst mehrere Gutenberg-Bibeln. Warum wollen Sie unsere eine sehen? Was ist so besonders daran?" Coven lächelt: "Diese hier ist noch am Originalort. Unsere sind eingewandert."