100.000 Jahre Menschheitsgeschichte

10. Januar 2017

Die Vor- und frühgeschichtliche Lehrsammlung am Institut für Altertumswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) ist auf Besucher nicht unbedingt eingerichtet. Sie ruht in einem Keller und bietet vor allem Forschungsmaterial für Dissertationen und Anschauungstücke für Studierende. Daniel Schäfer und Sebastian Fürst sind seit Frühjahr 2015 für die Sammlung zuständig. Nach und nach katalogisieren sie die Stücke unterschiedlichster Herkunft.

Eine schmale Außentreppe führt hinunter in den Keller des alten Adelspalais am Mainzer Schillerplatz. Hinter einer schweren Tür geht es in mehrere Richtungen weiter. Sebastian Fürst deutet nach links in ein eng bestuhltes Gewölbe. "Hier finden öfter Vorträge statt." Fürst führt nach rechts zu einer weiteren Tür. "Da sind wir."

Die Lehrsammlung des Arbeitsbereichs Vor- und frühgeschichtliche Archäologie ist nicht auf Besucher eingestellt. Sebastian Fürst und sein Kollege Daniel Schäfer hatten bereits im Vorhinein gewarnt, dass die meisten Exponate in Kisten verpackt seien, die Sammlung sei im Umbruch. Die beiden Doktoranden haben einiges getan, um die Erwartungen niedrig zu halten.

Keramik im Lauf der Epochen

Tatsächlich stapeln sich auf Metallregalen allerlei Kisten verschiedenster Formate. Auch eine Anzahl größerer Tongefäße ist zu entdecken. "Das sind Replikate", erklärt Schäfer. "Wir nutzen sie gern für Lehrveranstaltungen." Er holt ein schwarzbraun gefärbtes, rundes Gefäß aus einer der unteren Regalreihen heraus. "Das ist ein typisches Beispiel für Linearbandkeramik. Das Original stammt etwa aus dem sechsten Jahrtausend vor Christus." Eingeritzte Ornamente schlängeln sich über das Behältnis: Diese charakteristischen Bänder wurden zum Taufpaten einer Kultur.

Schon beim ersten Hinschauen fällt auf, dass die Gefäße von unterschiedlicher Qualität sind. Schäfer deutet auf ein größeres, beigefarbenes Exemplar. "Dieses stammt aus der Urnenfelderzeit, aus dem ersten Jahrtausend vor Christus. Es wirkt auf uns grob und eher hässlich. Das allein sagt aber nichts über den Stand der Kultur." Die Qualität von Tongefäßen als allgemeinen Aufstieg oder Niedergang zu interpretieren, ist zu kurz gedacht. "Es ist durchaus möglich, dass damals der Schwerpunkt einfach auf anderen Dingen lag, dass man nicht mehr so viel Wert auf kunstvolle Keramik legte."

Es geht weiter an den Metallregalen entlang. "Wir sind gerade dabei, die Objekte dieser Sammlung zu katalogisieren", sagt Fürst. "Nicht zu jedem haben wir einen Literaturvermerk. Deswegen erforschen wir unter anderem im Rahmen von Lehrveranstaltungen ihre Herkunft. Das ist eine spannende Detektivarbeit." Es gilt, Literatur zu wälzen, Illustrationen und Beschreibungen mit den vorliegenden Stücken zu vergleichen. "Wir haben zusammen mit den Studierenden schon einige Treffer gelandet."

Römische Fragmente

Seit Frühjahr 2015 sind die beiden Doktoranden für die Sammlung verantwortlich. Das Inventar stammt aus verschiedensten Quellen, was sich auch in der sehr unterschiedlichen Qualität der Dokumentation widerspiegelt. Einiges kommt aus Privatsammlungen, anderes von Ausgrabungen der Institutsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Es gibt Schenkungen von Privatpersonen, aber auch von Institutionen wie dem Rheinischen Landesmuseum Bonn. Hinzu kommen Dauerleihgaben der Mainzer Archäologischen Denkmalpflege, die allesamt das römische Mainz betreffen.

Schäfer präsentiert einen Karton mit Scherben in glänzendem Rot. Dies sind Originale – wie so vieles in der Sammlung. "Hier haben wir Fragmente von römischem Essgeschirr, Terra Sigillata aus dem ersten Jahrhundert." Ein Wildschwein ist deutlich als kleines Relief zu erkennen, auf einer anderen Scherbe finden sich Ornamente, dann eine menschliche Figur …

… und schon hat Schäfer den Karton wieder weggepackt, um den nächsten hervorzuholen. "Das ist römischer Wandverputz." Räume scheinen damals recht farbenfroh gewesen zu sein. Auch wenn die Stücke klein sind, lassen sich bunte Schmuckbänder und vieles mehr erahnen.

Faustkeil und Steinklinge

Einige Schritte weiter wechselt die Epoche erneut: Steinstückchen liegen ausgebreitet auf Tabletts. "Wir sind jetzt in der Mittleren Altsteinzeit", verkündet Fürst, "also bis zu 300.000 Jahre zurück." Manch einem Splitter ist die Bearbeitung durch Menschenhand kaum anzusehen, dazwischen liegen jedoch auch eindrucksvolle Stücke wie ein regelmäßig geformter Faustkeil oder eine längliche Klinge.

"Es ist viel anschaulicher, mit so etwas zu arbeiten, als den Studierenden nur Bilder zu zeigen", sagt Fürst. Das dachte sich wohl auch Prof. Dr. Herbert Kühn, der erste Ordinarius am Institut für Vor- und Frühgeschichte der 1946 wiedereröffneten Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er kaufte viele Stücke aus der Sammlung des niedersächsischen Historikers Heinrich Spanuth an und begründete damit die Vor- und frühgeschichtliche Lehrsammlung.

"Kühn hat die Objekte in den 1950er-Jahren angeschafft. Zum Glück wurden im Universitätsarchiv alte Korrespondenzen dazu gefunden. Es waren sogar Inventarlisten dabei." Die Artefakte stammen meist aus Frankreich, aus der Dordogne. "In den Listen ist sogar vermerkt, welche Objekte besonders interessant für die Forschung sein könnten."

Fürst blättert in einer Kopie. Unter der Nummer 33 steht: "große Breitklinge mit dicker Basis, sehr feines Stück!" Der Stein mit dem entsprechenden Aufkleber sieht wie in der Mitte eingedrückt aus, aber nicht mal das macht ihn für den Laien interessant. Der scheinbar so spannende Faustkeil dagegen ist nicht mal einen Extraeintrag wert: "242-244 Faustkeile" ist lakonisch vermerkt.

Mörstadt in der Bronzezeit

Die beiden Doktoranden beschäftigen sich eher mit der Bronze- und der Eisenzeit. Das sind ihre Fachgebiete. "Aber wenn wir uns mit Dingen wie diesen auseinandersetzen, führt es schon dazu, dass wir uns wieder einlesen." Zusammen mit den Studierenden entdecken sie die Epochen noch mal neu für sich.

"Das hier sind Stücke aus Mörstadt aus der späten Bronzezeit", erzählt Schäfer, während er eine weitere Kiste hervorzieht. Eine dünne metallene Schmucknadel liegt obenauf. "Zu diesen Funden bieten wir eine Übung an. Wir werden die einzelnen Stücke mit den Studierenden zeichnen, bestimmen und am Ende vielleicht einen kleinen Aufsatz veröffentlichen."

Es ist unmöglich, all die Kleinigkeiten aufzuzählen, die in den Regalen ruhen. Hinzu kommt, dass zwischen der eigentlichen Sammlung Fundstücke aus aktuelleren Grabungen des Arbeitsbereichs Vor- und frühgeschichtliche Archäologie lagern: Das Römerlager in Hermeskeil ist vertreten, die Wormser Innenstadt, das spätantike Kastell in Alzey. Manches geht demnächst an andere Institutionen, um Platz zu schaffen, manches bleibt zur genaueren Einordnung und Erforschung.

Die Vor- und frühgeschichtliche Lehrsammlung führt von der Altsteinzeit bis ins römische Mainz. Sie umspannt Zehntausende von Jahren. Das macht den Keller unter dem alten Adelspalais zu einem Abenteuer.