Die hohe Kunst des Argumentierens

8. September 2017

Der Debattierclub Johannes Gutenberg e.V. gehört zu den aktivsten und erfolgreichsten Vereinen der Szene. Er ist dreifacher Deutscher Meister und steht auf Rang zwei der Bestenliste der deutschen Debattierliga. Zweimal pro Woche lädt die Hochschulgruppe zur Debatte auf den Gutenberg-Campus. Alle Interessenten sind herzlich willkommen und eingeladen, die Debatten, die nach festen Regeln und doch in lockerer Atmosphäre ablaufen, zu verfolgen und sich selbst einzubringen.

"Meine sehr verehrten Damen und Herren, machen wir uns nichts vor. Wir reden darüber, ob eine Mörderin straffrei ausgehen darf." So beginnt Willy, der Eröffner der Regierung, sein Plädoyer. Es geht um Jacqueline Sauvage, die ihren Mann mit drei Schüssen in den Rücken tötete. Jahrzehntelang hatte sie seine Misshandlungen ertragen, musste miterleben, wie er ihre Töchter vergewaltigte. Wegen Mordes wurde sie rechtskräftig verurteilt, doch Frankreichs Präsident François Hollande begnadigte sie.

"Das Justizsystem schaut nicht auf Einzelfälle", fährt der Eröffner der Regierung leidenschaftlich fort. Er skizziert das Außergewöhnliche am Fall Sauvage, die schreckliche Situation der Frau. "Sie hat einfach keinen anderen Ausweg mehr gesehen." Für diese speziellen Fälle sei es gut, dass es die Möglichkeit gibt, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.

Der Fall Sauvage

Unruhe macht sich breit unter den drei Vertretern der Opposition, deren Eröffner nun am Zuge ist: "Was sagt uns die Regierung hier?", fragt er empört. "Sie sagt uns, dass, wenn wir glauben, dass unsere Justiz falsch entscheidet, die Politik eingreifen soll." So etwas kann er nicht akzeptieren. Er sieht das Rechtssystem in der Krise.

Die Debatte im Hörsaal im alten Haus Recht und Wirtschaft auf dem Gutenberg-Campus nimmt Fahrt auf. Es geht um die Frage, ob Jacqueline Sauvage hätte begnadigt werden sollen. Acht Studierende der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) argumentieren aufgebracht, während die Jury aufmerksam zuhört und sich Notizen macht: Jeder einzelne Wortbeitrag wird am Ende nach einem differenzierten Punktesystem bewertet.

"Wir geben unseren Rednerinnen und Rednern ein ausführliches Feedback", hatte Alena Haub zuvor erklärt. "Wir sagen ihnen, was gut war und was sie noch besser machen können." Die Präsidentin des Debattierclubs Johannes Gutenberg e.V. ist eine Stunde früher ins ReWi gekommen, um vom Verein zu erzählen und von der Debattenkultur, die hier seit 15 Jahren gepflegt wird.

Im Debattierclub Johannes Gutenberg e.V. treffen sich Studierende aller Fachbereiche. "Wir haben zwar viele Juristen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, aber es sind auch Leute aus der Physik und der Medizin dabei", erzählt Haub, die selbst Philosophie und Biologie studiert. "Wir können hier über den Tellerrand unserer jeweiligen Fächer schauen. Davon profitieren wir sehr."

Sofort mitdebattieren

Der Mainzer Club gehört zu den erfolgreichsten in der lebendigen Debattierszene. Er ist der einzige Club, dem es gelang, dreimal die Deutsche Meisterschaft zu gewinnen. In der ewigen Bestenliste der deutschen Debattierliga steht er auf Platz zwei.

"Wir haben rund 120 Mitglieder", erzählt Haub. Der Verein versteht sich als Hochschulgruppe, doch im Grunde darf jeder mitmachen. "Wer möchte, kann einfach bei uns reinschauen", wirbt die Präsidentin. "Wir treffen uns dienstags um 18 Uhr und donnerstags um 20 Uhr."

Wer dazukommt, wird direkt mit einbezogen. "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele anfangs zögern. Wenn wir sie aber bestärken, gleich mitzumachen, merken sie, dass es gar nicht so schwer ist." Sie greifen als freie Redner in die Debatte ein. Damit haben sie gerade mal dreieinhalb Minuten Redezeit. Das lässt sich überstehen.

Wer im Club debattiert, muss sich an Regeln halten. Im Wesentlichen gibt es zwei genau definierte Debattierformate: Beim British Parliamentary Style, kurz BPS, streiten vier Teams zu je zwei Rednern, wobei jeder Beitrag sieben Minuten dauert. Im Ping-Pong-System wechseln sich Rede und Gegenrede, Regierung und Opposition, ab.

Feste Regeln, viele Punkte

In Deutschland ist die in Tübingen entwickelte Offene Parlamentarische Debatte (OPD) vorherrschend: Der Eröffner der Regierungsseite beginnt, es folgt der Eröffner der Opposition. Danach sind die Ergänzer von Regierung und Opposition an der Reihe, um die Debatte zu vertiefen und neue Aspekte einzubringen. Ist das erledigt, kommen die freien Redner zum Zuge. Meist sind es drei, doch das kann gerade bei den vereinsinternen Debatten variieren. Sie bekennen sich zu einer Seite und bringen im Idealfall bisher übersehene Aspekte ein. Im Finale dann fassen die Schlussredner von Regierung und Opposition das Thema zusammen und plädieren für ihre jeweilige Seite.

Die Vertreter von Regierung und Opposition haben auch in diesem Format genau sieben Minuten Zeit. In der ersten und der letzten Minute sind keine Zwischenfragen erlaubt, ansonsten aber können sie entscheiden, ob sie Einwürfe zulassen.

"BPS ist das internationale Format", erläutert Haub, "da geht es nur um den Inhalt, nicht um Rhetorik oder Auftreten." Bei der OPD ist das anders. Hier gehören neben Sachverstand und Urteilskraft auch Sprachkraft, Auftreten und Kontaktfähigkeit zu den Bewertungskategorien. In jeder Sparte sind bis zu 20 Punkte möglich. "Aber die werden in der Praxis nie vergeben. Eine Gesamtpunktzahl von 50 ist schon recht gut."

Themen für die Debatte werden am Anfang eines Treffens vorgeschlagen. Die Seiten werden zugelost. "Wenn die Leute sich lange vorbereiten, sind sie oft sehr auf ihre Argumente festgelegt und wenig bereit, auf die andere Seite einzugehen", meint Haub. Im Prinzip ist jedes Thema erlaubt. "Es sollte aber eine ausgeglichene Diskussion möglich sein."

Mainzer Spaßdebatten

Der Debattierclub Johannes Gutenberg e.V. lädt regelmäßig zu Schaudebatten ein, er veranstaltet eigene Turniere wie den Gutenberg-Cup und seine Mannschaften kämpfen natürlich um Titel und Pokale. Es kommt aber noch eine Besonderheit hinzu, die den Club einmalig macht: "Wir gelten als der Fastnachtsverein unter den Debattierclubs, weil wir jedes Jahr ein Spaßturnier ausrichten. Dabei geht es dann um Themen wie 'Sollte Barbie zum Militär gehen?' oder 'Sollten in der Schule Verschwörungstheorien unterrichtet werden?'" Dieses Format wurde in Mainz entwickelt und kommt nur hier aufs Podium.

Die Debatte um die Begnadigung des Jacqueline Sauvage ist nach gut einer Stunde beendet. Die Parteien reichen sich die Hände. Von Seiten der Jury heißt es trocken: "Das war an sich unterhaltsam, aber da geht noch was." Mit 50 Punkten hat der Eröffnungsredner der Regierung am besten abgeschnitten. Bei anderen fehlte mal eine klare Gliederung, mal wurde ein Argument zu hoch gehängt oder zu viele Pausen mit einem nervigen "Äh" gefüllt.

Die Redner nehmen es gelassen. Chipstüten und Schokoriegel wandern durch die Reihen. Die Debattierer entspannen sich. "Gummibärchen!", ruft jemand. "Wo sind die Gummibärchen?"

"Es geht locker bei uns zu", meint Haub. "Manche sind immer da, manche einmal die Woche oder nur alle paar Monate. Das ist in Ordnung." Jeder ist willkommen beim Debattierclub Johannes Gutenberg e.V. Hier gibt es reichlich Diskussionsstoff, dazu ein paar Chips und mit etwas Glück sogar Gummibärchen.