Das Proton-Radius-Puzzle

25. Januar 2018

Seine Ergebnisse haben nicht nur die Fachwelt aufhorchen lassen: Professor Dr. Randolf Pohl, im Mai 2016 ans Exzellenzcluster PRISMA der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) berufen, hat das Proton, einen fundamentalen Baustein des Atomkerns, mit einer neuen Methode vermessen. Er kam auf einen Radius, der vier Prozent unter jenem Wert liegt, der bisher von der Wissenschaft angenommen wurde. Sein Resultat gibt Rätsel auf und könnte gravierende Folgen für das Standardmodell der Teilchenphysik haben.

Aus dem Fenster seines Büros im fünften Stock des Instituts für Physik blickt Prof. Dr. Randolf Pohl auf ein Konglomerat an Gebäuden, unter denen sich tief in der Erde das Mainzer Mikrotron MAMI, der Teilchenbeschleuniger der JGU, verbirgt. Dort arbeitete einst ein guter Bekannter und Kollege Pohls, der Kernphysiker Jan C. Bernauer, an der Vermessung von Protonen. Um deren Radius zu ermitteln, beschoss Bernauer Wasserstoffatome mit Elektronen. Bei seinem 2005 gestarteten Promotionsprojekt kam er auf einen Wert von rund 0,877 Femtometern, wobei ein Femtometer einem billiardstel Meter entspricht. Seine Ergebnisse harmonierten mit dem, was frühere Experimente ergeben hatten und was die Fachwelt erwartete.

Bereits acht Jahre zuvor hatten sich Pohl und sein Team am Schweizer Paul Scherrer Institut (PSI) daran gemacht, eine andere Methode zur Protonenmessung zu entwickeln. Sie nutzten Laserstrahlen, um ins Innere von Wasserstoffatomen zu schauen. Das an sich war noch nicht neu. Doch sie ersetzten das Elektron, das normalerweise in einem Wasserstoffatom kreist, durch ein Myon. So konnten sie um ein Vielfaches genauer messen und veröffentlichten schließlich im Jahr 2010 einen Wert, der für Überraschung sorgte: Er lag vier Prozent unter dem, was Bernauer und Co. ermittelt hatten.

Vom Myon im Proton

"Wir schaufeln das Myon von einem Zustand in den anderen", erklärt Pohl möglichst anschaulich das wissenschaftliche Vorgehen. "Es gibt verschiedene Niveaus, auf denen ein Elektron – oder das Myon in unserem Experiment – im Atomkern kreist. Mit dem Laser schießen wir das Myon von einem 2S- auf ein 2P-Niveau."

Wichtig dabei ist, dass sich solch ein Teilchen nicht einfach wie der Mond verhält, der um die Erde kreist. Die Bahnen sind komplexer: "Es gibt Momente, in denen sich das negativ geladene Myon im Proton aufhält." Genau auf diese Momente kommt es an. Pohl misst den Energieunterschied zwischen dem 2S-Zustand, in dem sich das Myon im Inneren des Protons aufhalten kann, und dem 2P-Zustand, in dem das nicht der Fall ist. So findet er heraus, wie lange sich das Myon im Proton befindet. Daraus wiederum lässt sich der Protonenradius ableiten. "Ein Myon ist 207-mal schwerer als ein Elektron. Es verbringt deswegen zehn Millionen Mal mehr Zeit im Protoninneren. Dieser Umstand ermöglicht es uns, die Kerngröße viel exakter zu bestimmen als vorher."

Wenn Pohl von seiner Forschung erzählt, hält es ihn nicht auf dem Bürostuhl. Im Moment steht er vor der großen Tafel, die in seinem Büro an der Wand hängt. Schematisch hat er Mond und Erde aufgezeichnet, daneben Myonen- und Elektronenzustände: Ein S-Niveau sieht in seiner Version wie ein Kreis aus, ein P-Niveau eher wie eine Eieruhr.

Der Physiker hat eine gewisse Routine darin, die komplexen Sachverhalte seiner Arbeit verständlich darzustellen. "Ich habe schon einige öffentliche Vorträge dazu gehalten und auch an Science Slams teilgenommen", erzählt er. Dann deutet Pohl auf die Ausgabe der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft, die auf seinem Schreibtisch liegt. Gemeinsam mit Bernauer verfasste er 2014 einen Artikel für das populärwissenschaftliche Magazin. "Wir haben bei der Beschreibung der Physik vereinfacht, bis es weh tat", meint er lächelnd. Immerhin schafften die beiden es damit bis auf den Titel. Dort wird in großen Buchstaben das sogenannte Proton-Paradoxon beworben. Darunter steht ergänzend: "Widersprüchliche Größenmessungen deuten auf eine neue Physik".

Knirschen im Standardmodell

Pohl ist sich nicht sicher, ob er so weit gehen würde. Die abweichenden Messwerte könnten verschiedenste Gründe haben. "Vielleicht spielt irgendein systematischer Effekt, den wir oder die anderen nicht beachtet haben, eine Rolle", meint er. Vieles sei zu berücksichtigen bei solchen Experimenten. Nebeneffekte müssten herausgerechnet werden. Pohl redet von "Dreck-Effekten", die unerwünschte Schlieren hinterlassen haben könnten. "Das wäre die langweiligste Lösung." Eine andere Variante wäre, dass sich in den Theorien, die den Messungen zugrunde liegen, ein Fehler verbirgt.

Erst als Drittes nennt Pohl die aufregendste Möglichkeit. "Vielleicht stimmt tatsächlich etwas mit unserem Standardmodell der Elementarteilchen nicht. Vielleicht sagt uns die Diskrepanz: Da braucht es ein neues Teilchen. Damit könnte man dann vielleicht auch andere Dinge erklären, die nach unserer aktuellen Forschung im Standardmodell knirschen." Klar ist in jedem Fall: "Die Diskrepanz hat unser Thema spannend gemacht. Sie ist auch nach sieben Jahren noch nicht aufgelöst."

Pohl ist zum Exzellenzcluster PRISMA an die JGU gekommen, um die Forschung auf seinem Gebiet weiter voranzutreiben. "Wenn wir nicht mit Myonen messen, macht es keiner", sagt er. Der Atomkern des Wasserstoffs ist noch einfach gestrickt. Er besteht lediglich aus einem Proton und war damit als Ausgangspunkt gut geeignet. Danach nahmen sich Pohl und seine Arbeitsgruppe Deuterium vor. Dessen Kern besteht aus einem Neutron und einem Proton. "Auch da haben wir die Abweichung gefunden und es liegt wieder eindeutig am Proton." Weiter ging es mit Helium-3 und Helium-4.

"In Zukunft wollen wir uns Tritium ansehen. Dort besteht der Kern aus zwei Protonen und zwei Neutronen." Ein paar Stockwerke unter Pohls Büro bereitet seine Gruppe erste Versuchsanordnungen dafür vor. "Wir tasten uns erst langsam heran", erklärt Pohl. "Für solche Experimente braucht man einen langen Atem. Von den ersten Ansätzen zu unseren Messungen mit myonischem Wasserstoff bis zu den ersten Ergebnissen dauerte es zwölf Jahre. Jetzt rechnen wir noch mal mit mindestens fünf Jahren." Das eigentliche Experiment wird dann wie bei allen früheren Experimenten im Villinger Paul Scherrer Institut stattfinden.

Exzellenzcluster mit Strahlkraft

Diese Stippvisiten in der Schweiz sind unabdingbar für Pohls Forschung, das Institut dort produziert die stärksten Myonenstrahlen überhaupt. Doch abgesehen davon fühlt sich der Physiker auf seiner neuen Professur für Experimentelle Atomphysik am Exzellenzcluster PRISMA optimal aufgehoben. "Mainz hat mich ausgesucht, ich habe sehr viel Glück gehabt. Die JGU ist der ideale Ort für die Physik, die ich betreibe. Es gibt ungeheuer viele Überlappungen mit Kolleginnen und Kollegen. Expertisen, die für meine Forschung wichtig sind, finden sich direkt hier. Im Helmholtz-Institut nebenan sitzt zum Beispiel Sonia Bacca." Sie kam im Sommer 2017 als Professorin für theoretische Physik aus dem kanadischen Vancouver nach Mainz. "Sie ist die führende Expertin für Effekte des Myons auf leichte Kerne weltweit."

PRISMA hat große Strahlkraft, das betont Pohl. "Das Portfolio des Exzellenzclusters ist vielseitig und zugleich zieht der Cluster genau die passenden Leute an, die zusammen ein Feld beackern können. Bei uns hängt alles miteinander zusammen und nur in solch einer Umgebung können wir wirklich Herausragendes leisten."

Pohl schaut sich um in seinem Büro. Die Tafel ist mittlerweile übersät mit Skizzen, das Mobiliar drumherum wirkt noch immer recht neu. "So ein Professorenzimmer richtet man sich oft nur einmal im Leben ein", sagt er. Seines hat er auf dem Gutenberg-Campus gefunden: mit Blick auf MAMI, auf das neue Helmholtz-Institut – und mit all den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Nachbarschaft, die ihn unterstützen werden bei seiner Forschung.