Auf den Spuren eines uralten Überlebenskünstlers

24. Juli 2012

Schwämme haben viel zu erzählen: Davon konnte der Mainzer Molekularbiologe Prof. Dr. Werner E. G. Müller in den letzten Jahrzehnten die Welt überzeugen. Im Gespräch berichtet er von den lange unterschätzten Lebewesen und von ihrer Bedeutung für die Forschung, die den Menschen auf verschiedensten Gebieten weiterbringen kann.

"Das ist ein Schwamm." Prof. Dr. Werner E. G. Müller stellt eine unterarmlange Glasröhre auf den Tisch. Ein ungeheuer filigranes Gebilde ragt darin auf: das Skelett des Tiefseeschwamms Euplectella. Es scheint weiß zu leuchten im gedämpften Licht. Zart wie Seide wirken die unzähligen Stränge, die sich zu einem harmonischen Ganzen verbinden. Dies könnte das Modell für ein futuristisches Hochhaus sein.

"Vor 20 Jahren glaubte kaum jemand daran, dass man von solchen Schwämmen viele Neuigkeiten erfährt." Der Professor vom Institut für Physiologische Chemie der Universitätsmedizin Mainz hat das gründlich geändert. Nun erzählt er davon.

Der Ursprung aller Tiere

Während draußen die Sommersonne scheint, bleiben die Jalousien in Müllers Büro geschlossen. Einzelne Lichtstrahlen dringen hindurch, die Konturen im Raum wirken weich. Ein wenig fühlt es sich an wie im Aquarium. Im Mittelpunkt der Schwamm.

"Unser Objekt ist der ursprünglichste vielzellige Organismus. 1995 haben wir in Mainz die Schlüsselentdeckung gemacht: Wir konnten den Ursprung aller Tiere auf die Schwämme zurückführen." Vor 800 Millionen Jahren gab es ihre Urahnen schon. "Schwämme sind Meister des Überlebens." So waren sie die einzigen, die vor 540 Millionen Jahren beim großen Artensterben von der irdischen Fauna übrig blieben. Sie bildeten dann die Grundlage für die explosive Ausbreitung tierischen Lebens im Kambrium.

"Schwämme werden vielleicht noch weitere 300, 400 Millionen Jahre überleben", sagt Müller, "wir Menschen vielleicht fünf Millionen." Da liegt es nahe, dass sich der junge Homo sapiens was abguckt beim alten Schwamm.

Als Schwamm lebt es sich länger

"Wir haben erkannt, dass diese Tiere alle Strukturmerkmale und Regulationsmechanismen haben, die wir von anderen Vielzellern kennen." Der Schwamm ist als ursprüngliche Lebensform allerdings weniger spezialisiert als etwa der Mensch – und damit weniger anfällig. "Der älteste Schwamm wurde vor 10.000 Jahren in Südchina geboren."

Solch erstaunliche Fakten könnte der Professor endlos auftürmen. Er ist zu den Schwämmen im Baikalsee hinabgetaucht, er besuchte ihre Verwandten in einem Bergsee am Fuß des Mount Everest – und er beobachtete die Baumschwämme in Amazonien, die neun Monate über und drei Monate unter Wasser leben.

Doch nun soll es darum gehen, was der Wissenschaftler und seine Kollegen den Schwämmen Nützliches entlockten. "Dabei führt unser Weg immer von der Molekularbiologie über die Biologie bis zur praktischen Anwendung", stellt Müller klar, bevor er einige Facetten seiner Forschung beleuchtet.

Ein wunderbares Skelett

Das fein strukturierte Schwammskelett besteht aus Silikat. "Wir konnten erkennen, dass es ein bestimmtes Enzym gibt, das dieses Quarzglas herstellt. Das hat es vorher noch nie gegeben: Ein Enzym, das solch eine anorganische Substanz herstellt. Wenn Schott Glas so was produziert, brauchen die Temperaturen von 1.500 Grad Celsius, die Tiere tun das bei 20 Grad und weniger."

Auf den ersten Blick scheint das Glasskelett des Schwamms nicht viel mit den menschlichen Knochen zu tun zu haben. "Doch amerikanische Kollegen haben herausgefunden, dass wir zum Knochenaufbau Silikat brauchen. Wo Knochen wachsen, ist viel Silikat." Alternde Knochen sind ein Problem, Osteoporose ist auf dem Vormarsch. Hier könnten Schwämme helfen. Wie wäre es, ein Silikatgerüst zu schaffen, das knochenaufbauend wirkt?

Ein anderes Thema: Verliert ein Schwamm einen Teil seines Körpers, baut er ihn wieder nach. "80 Prozent seiner Zellen sind Stammzellen." Sie stehen bereit, sich zu spezialisieren und Ersatz zu leisten. Auch das Silikat spielt wieder eine Rolle: "Es veranlasst Stammzellen, ein Skelett aufzubauen."

Ein Gerüst zeigt Nerven

Überhaupt scheint das Gerüst aus Quarzglas mehr zu tun, als von einem Skelett zu erwarten wäre: Ein Schwamm hat kein Nervensystem, aber es sieht so aus, als würde sein Skelett gewisse neurale Funktionen übernehmen. "Könnten wir nach diesem Vorbild nervenähnliche Strukturen bilden?"

Von den Schwämmen selbst geht es zu ihren Mitarbeitern. "Schwämme haben die Symbiose mit Bakterien und Algen bis zur Perfektion getrieben." So entstehen Substanzen, die als Medikamente nützlich sein können. "Bei der Leukämie und der Anti-Tumor-Behandlung spielen sie bereits eine Rolle."

Auch bei der Behandlung von Oberflächen sollen Schwämme die Stars werden: Das Fouling, den organischen Film, der sich mit der Zeit auf den Schiffsrümpfen bildet, die Seepocken, die sich ansiedeln und die Fahrt gewaltig bremsen, kann der Schwamm seit Jahrmillionen abwehren. Die einstige Anti-Fouling-Substanz TBT ist mittlerweile verboten. Schwämme aber bieten Ersatz.

Sechs Millionen Euro für BlueGenics

Dabei ist eines wichtig: Müller und Co. wollen keine Schwämme ernten, um Substanzen massenhaft zu extrahieren. Sie arbeiten anders. Eines ihrer Ziele ist, genetische Blaupausen zu entwickeln: Gene aus Schwämmen überführen sie in leicht zu kultivierende Mikroorganismen. Dafür hat die EU-Kommission gerade rund sechs Millionen Euro zur Verfügung gestellt: Das internationale Forschungprojekt "BlueGenics", von Mainz koordiniert, startet in diesem Jahr.

Die Mainzer und ihre Schwämme finden weltweit Beachtung und Unterstützung. Vor zwei Jahren etwa wurde Müller mit dem ERC Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats ausgezeichnet, der mit 2,2 Millionen Euro höchstdotierten Forschungsförderung der EU. Und das von Müller mitgegründete Exzellenzzentrum "BIOTECmarin" floriert mit seinem Konzept, Biomaterialien aus dem Meer zu nutzen. "Was Schwämme angeht, sind wir in Mainz einfach spitze", sagt Müller. "Die Bedingungen hier sind toll."

Goethe, Genscher, Schwämme

Zwei Stunden erzählt Müller. In seinem Büro herrscht immer noch Halbdunkel, Euplectella leuchtet weiß. Zwar macht der Molekularbiologe gern mal einen Abstecher: Von Goethes Schriften zur Naturwissenschaft ist die Rede, von Schillers Schludrigkeit bei seiner Schrift über den Dreißigjährigen Krieg, von Begegnungen mit Hans-Dietrich Genscher oder einem langen Gespräch mit Chinas Premier Wen Jiabao. Doch immer wieder kehrt der Professor zu den Schwämmen zurück. "Die haben uns noch viel zu erzählen", sagt er auf dem Weg von seinem Büro zum Fahrstuhl, wo er sich verabschiedet.

Draußen dann scheint die Sonne warm und etwas grell. Es ist wie ein Auftauchen aus einer fantastischen Welt.