Flexible Proteine geben Rätsel auf

15. Mai 2018

Prof. Dr. Edward Lemke forscht zu intrinsisch ungeordneten Proteinen. Unter anderem hat er neue Methoden entwickelt, um diese Eiweiße zu beobachten. Seit 1. Januar 2018 ist er Professor am Fachbereich Biologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und kooptiert mit dem Fachbereich für Chemie, Pharmazie und Geowissenschaften. Er ist zudem Adjunct Director am Institut für Molekulare Biologie (IMB) und Fellow am Gutenberg-Forschungskolleg (GFK).

"Stellen Sie sich einen Topf voller gekochter Spaghetti vor", fordert Prof. Dr. Edward Lemke. "Sie würden nicht erwarten, dass Sie diese Nudeln in eine sinnvolle Form bringen können, sodass sie irgendeine Aufgabe erfüllen können. Genau das ist aber bei den intrinsisch ungeordneten Proteinen der Fall. Früher ist man davon ausgegangen, dass Proteine gefaltet sein müssen um zu funktionieren. Heute aber wissen wir, dass bis zu 50 Prozent nicht gefaltet sind. Es sind flexible Moleküle – wie Spaghetti." In den letzten 20 Jahren hat diese Erkenntnis die Sicht auf Proteine grundlegend geändert. Lemke gehört zu den Spitzenforschen, die auf diesem rapide expandierenden Gebiet immer wieder Neues herausfinden.

Zu Beginn des Jahres trat der biophysikalische Chemiker eine Professur am Fachbereich Biologie der JGU an. Sein Büro auf dem Gutenberg-Campus hat Lemke bereits bezogen, seine Arbeitsgruppe allerdings ist vorerst noch in Heidelberg, wo er seit 2009 am European Molecular Biology Laboratory (EMBL) forscht. "Wir wollten die Gruppe nicht zerreißen. Mit zehn Leuten ist sie doch recht groß und in Mainz fehlen im Moment noch die passenden Räumlichkeiten." Das wird sich 2020 ändern. "Dann wird das BioZentrum II fertig sein und wir werden dort moderne Labore bekommen."

Aufbau mitgestalten

Das klingt erst mal umständlich, ist aber einer der Gründe, warum der Chemiker dem Ruf nach Mainz auf die Professur für synthetische Biophysik folgte. "Diese Universität investiert gerade massiv in die Lebenswissenschaften und die Biologie wird neu aufgestellt. Das ist eine gute Gelegenheit, die Forschung hier mitzugestalten. Außerdem stimmt das wissenschaftliche Umfeld." Lemke hebt das Institut für Molekulare Biologie (IMB) hervor, an dem er zum Adjunct Director ernannt wurde. Und er spricht einen weiteren Aspekt an: "Die Polymerforschung in Mainz ist sehr prominent. Nun sind Polymere gar nicht so weit weg von Proteinen. Hier könnte ich mir eine Zusammenarbeit sehr gut vorstellen." Auch das Konzept des Gutenberg Forschungskollegs (GFK), das ihn bereits als Fellow begrüßt hat, überzeugt ihn. "Es ist ein hervorragendes strategisches Instrument, das es erlaubt, gewisse Bereiche gezielt stärker zu unterstützen."

Jetzt aber genug des Lobes. Lemke will über seine Forschung erzählen, für die er weltweit Anerkennung erfährt. "Proteine sind ein wichtiger Baustein aller belebten Materie, aus ihnen werden molekulare Maschinen gebaut, die verschiedenste Aufgaben erfüllen." Bei den gefalteten Proteinen ist die Sache relativ klar: Sie nehmen eine bestimmte Form an und werden Teil einer Maschine. "Aber die intrinsisch ungeordneten Proteine haben keine feste Form, sie sind total flexibel. Wie kann es eine spezifische Maschine geben, die auf Basis solcher Spaghetti-Moleküle arbeitet? Das interessiert uns."

Lemkes Team beschäftigt sich unter anderem mit Körperzellen – oder genauer: mit deren Kern, der von einer Membran umhüllt ist. In dieser Membran sitzen einige Hundert Kernporen. "Sie bestehen aus einem Ring, der von gefalteten Proteinen gebildet wird. Ihn können wir unter dem Mikroskop gut erkennen. In diesem Ring aber wimmelt es von intrinsisch ungeordneten Proteinen, die noch niemand wirklich gesehen hat. Sie filtern, was aus der Zelle in den Kern hinein und was heraus darf." Der Verkehr zwischen der Zelle und ihrem Kern ist ungeheuer rege, die Aufgabe also gewaltig. "Wir haben es mit mehreren Tausend Shuttle-Events in der Sekunde zu tun. Wer hinein oder hinaus will, braucht einen Schlüssel." Dieser Schlüssel dockt an Substanzen an, um die Passage zu ermöglichen. Das Schloss ist dann ein Konglomerat von Spaghetti-Molekülen in der Kernpore.

Mit Sonden in die Zelle

Diese Vorgänge sind nur schwer zu beobachten. Lemkes Gruppe entwickelte ein aufwendiges Verfahren, das sich die Fluoreszenz zunutze macht: "Es gibt gewisse Farbstoffe, die wir dazu anregen können zu leuchten. Die schicken wir als Sonden in die Zelle, dann beobachten wir mit hochauflösenden Mikroskopen, was geschieht. Dabei reicht es uns, ein einzelnes Molekül ins System einzubringen. Das Besondere ist nun, dass wir nicht wie bei anderen Methoden eine Momentaufnahme bekommen, einen Schnappschuss, sondern eine Art Kurzfilm, der uns einen Ablauf zeigt." Natürlich ist das nur ein kleiner Ausschnitt, deswegen wird Molekül auf Molekül losgeschickt, um die größeren Zusammenhänge zu sehen. "Das machen wir dann einige tausendmal."

Es stellte sich heraus, dass intrinsisch ungeordnete Proteine fähig sind, verschiedenste Aufgaben zu erfüllen. Sie können sich sogar falten, wenn es sein muss. Sie sind also unterm Strich leistungsfähiger und vielseitiger als ihre dauernd gefalteten Verwandten.

"Allerdings ist die Natur dafür ein Risiko eingegangen", erklärt Lemke. "Spaghetti-Moleküle sind anfälliger, wenn sie zum Beispiel von Viren angegriffen werden." Lemkes Gruppe hat das bei HI- und Hepatitis-Viren untersucht. "Mit gefalteten Proteinen haben die Viren größere Probleme, sie umzufunktionieren. Die müssen erst einmal entfaltet werden. Das ist bei Spaghetti-Molekülen überflüssig."

Bei degenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson spielen sogenannte amyloide Fibrillen eine entscheidende Rolle. "Dabei fällen Proteine in eine lange Struktur aus und schädigen die Zellen. Auch dafür zeigen intrinsisch ungeordnete Proteine eine erhöhte Anfälligkeit." Aber offensichtlich wiegt ihre Nützlichkeit diese Nachteile auf.

DFG-Schwerpunktprogramm

Lemke betreibt Grundlagenforschung. Er will wissen, wie die Spaghetti-Molküle genau funktionieren. Dafür hat er ein interdisziplinäres Team zusammengestellt, in dem Physiker, Chemiker, Molekularbiologen und Techniker Hand in Hand arbeiten. "Wir sind erst am Anfang", sagt er, "wir haben noch viel Arbeit vor uns."

Ein frisch eingerichtetes Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zu molekularen Mechanismen funktioneller Phasenseparation könnte helfen, einen weiteren Aspekt dieses Forschungsgebiets voranzubringen. Lemke wurde zu dessen Sprecher gewählt. Auch hier spielen die Spaghetti-Moleküle wieder eine Rolle. Sie können sich zusammenschließen und Tropfen bilden, um so Kompartimente zu formen: separate Räume in einer Zelle, die eine ganz bestimmte Funktion erfüllen und sich wieder auflösen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.

"Wir kennen diese Kompartimente schon länger, haben aber nur begrenzt Ahnung, wie sie molekular funktionieren. Das soll sich ändern." Bundesweit können sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihren Projekten für das neue DFG-Schwerpunktprogramm bewerben. "Ich kann mir gut vorstellen, dass einige Mainzer Gruppen dabei sein werden", meint Lemke, "schließlich sind wir hervorragend aufgestellt.“

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