Fortschritte werden über Corona hinaus wirken

14. September 2020

Der umfassende Einsatz digitaler Lernplattformen prägte das Sommersemester 2020 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Sowohl Lehrende als auch Studierende mussten sich umstellen und einarbeiten. Es galt, neue Formate zu entwickeln. Drei Beispiele zeigen, worin die besonderen Herausforderungen und Chancen bestanden, wo es Verbesserungen oder Einschränkungen gab und was für die kommenden Semester relevant bleiben wird: Constanze Schuler vom Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft (FTMK), Dr. Nadine Dreimüller, Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, und Prof. Dr. Andreas Hildebrandt vom Institut für Informatik berichten.

"Gerade für die Erstsemester war die Situation sehr schwierig", meint Dr. Constanze Schuler vom Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft (FTMK). "Viele von ihnen waren noch nie auf dem Campus und konnten noch keine unserer Dozentinnen und Dozenten persönlich kennen lernen. Deswegen war es uns besonders wichtig, für sie möglichst schnell ein gutes Angebot zu schaffen." Schuler erstellte über die Videoplattform Panopto eine virtuelle Einführungsveranstaltung, eines der ersten Angebote dieser Art an der JGU.

Dr. Constanze Schuler, Theaterwissenschaft

"Als sehr medienaffines Institut haben wir bereits vor dem Sommersemester regelmäßig mit dem Einsatz digitaler Medien gearbeitet", erzählt sie. "Aber nun mussten sich die Lehrenden doch noch mal ganz neu erfinden. Mir selbst hat es Spaß gemacht, mich einzuarbeiten, zu schauen, was geeignet ist, welches Tool ich wie verwenden kann. Aber es war auch ungeheuer arbeitsaufwändig."

Schuler lehrt Theaterwissenschaft, zudem ist sie Studienfachberaterin und Vertrauensdozentin am FTMK. "In meinem Fach steht das Theater als soziales Ereignis im Mittelpunkt. Unser Forschungsgegenstand ist gekennzeichnet durch seine 'Liveness', seine Flüchtigkeit, aber auch durch den lebendigen, kommunikativen Austausch zwischen Agierenden und Zuschauenden, was uns in der Lehre vor besondere Herausforderungen stellt und gestellt hat." Solche Momente lassen sich kaum digital vermitteln, hier waren neue Ansätze gefragt. "Wir griffen in unseren Veranstaltungen vielfach die aktuelle Situation auf und schauten, wie Theater- und Kultureinrichtungen etwa mit Streaming-Angeboten, Videos oder neuen Raumkonzepten auf die besondere Situation reagieren."

Der von Prof. Dr. Friedemann Kreuder angekündigte Besuch der Wiener Festwochen musste zwar ausfallen, doch in Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Prof. Dr. Stefan Hulfeld vom Wiener Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft realisierte er stattdessen ein Online-Seminar mit dem Titel "Welt ohne Theater. Wie transformiert die COVID-19-Pandemie das Sozialleben und die Szenischen Künste?". "Dort wurden Fragen nach dem Verhältnis von Unmittelbarkeit und Digitalisierung, nach den Strategien von Theaterschaffenden in Zeiten des 'social distancing', aber auch nach zukunftsweisenden Konzepten von Theater nach Corona gestellt und mit Mainzer und Wiener Master-Studierenden diskutiert."

Lehrformate kontinuierlich weiterentwickeln

"Das analytische Instrumentarium der Theaterwissenschaft lässt sich digital recht gut vermitteln", meint Schuler. "Doch lernen hat immer auch einen Werkstattcharakter. Das versuchten wir in digitalen Live-Meetings zu spiegeln, was allerdings manchmal recht schwierig war. Ich denke überhaupt, dass dieses Semester eine enorme Herausforderung für unsere Studierenden darstellte. Zum Teil begrüßten sie das flexible Arbeiten, den Luxus, nicht an zeitliche Vorgaben gebunden zu sein. Viele spürten aber auch die mentale Herausforderung. Sie fühlten sich abgeschnitten."

Einen positiven Aspekt hebt die Theaterwissenschaftlerin besonders hervor: "Die Rollen und Anforderungsprofile von Studierenden und Lehrenden vermischten sich beinahe. Im gegenseitigen Austausch ergaben sich neue Lernszenarien, gemeinsam entwickelten wir neue Formate. Die Rolle der Lehrenden änderte sich, sie wurden mehr zu Begleitern von Lernprozessen."

Mit Blick auf das kommende Semester prognostiziert Schuler: "Es wird die größte Herausforderung sein, weiterhin flexibel auf das Pandemie-Geschehen zu reagieren, digitale Lehrformate kontinuierlich weiterzuentwickeln und sich langfristig über eine didaktisch sinnvolle Verknüpfung aus Präsenzlehre und digitaler Lehre Gedanken zu machen. Das wäre eine Aufgabe, die sowohl auf kollegialer Ebene im kleineren Kreis als auch auf Ebene der Fachbereiche und der Hochschulleitung breit diskutiert werden sollte."

Dr. Nadine Dreimüller, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

"Ich bin der Meinung, wenn wir etwas machen, dann sollten wir es auch richtig machen und nicht irgendetwas dahinpfuschen", sagt Dr. Nadine Dreimüller. Die Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Mainz räumt ein: "Vor Corona waren wir im Bereich digitale Medien nicht besonders weit. Sicher, wir laden bereits seit einiger Zeit die Skripte der Vorlesungen als PDF-Dateien hoch und erledigen auch viel Organisatorisches im Netz, aber wir waren uns schon immer bewusst, dass wir etwas aufzuholen haben. Bei mir zum Beispiel verhielt es sich so, dass ich neben meinem Triple-Job aus Lehre, Forschung und Krankenversorgung einfach nicht dazu kam, mich näher mit dem Thema zu beschäftigen. In dieser Hinsicht lag in der Krise durchaus eine Chance: Dinge wurden umgesetzt, die wir früher für undenkbar gehalten hätten."

Als Lehrbeauftragte ihrer Klinik, Leiterin der AG Lehrforschung an der Universitätsmedizin und Mitglied des Ausschusses Universitäre Lehre der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. war sie in mehrfacher Hinsicht gefordert, als kurz vor Beginn des Sommersemesters klar wurde, dass eine Präsenzlehre kaum denkbar sein würde. "Ich machte mir sehr genau Gedanken – auch gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen – was unsere Idealvorstellung von digitaler Lehre ist. Dann schrieb ich ein ausführliches Konzept." Damit konfrontierte Dreimüller die Kolleginnen von der Hochschuldidaktik beim Zentrum für Qualitätssicherung und -entwicklung (ZQ) der JGU. "Ich fragte: Was davon können wir umsetzen? Die Antwort kam prompt: Sehr viel!"

In der Folge fand Dreimüller viel Unterstützung in ihrer Abteilung. "Ich konnte mich weitgehend aus der klinischen Arbeit zurückziehen und im Homeoffice an der Verwirklichung meiner Vorstellungen arbeiten, oft in Nachtschichten von 22 bis 3 Uhr, weil dort die Server für unsere Lehrplattformen Moodle und Panopto nicht überlastet waren. Das stellte zu Beginn ein Problem dar, wurde aber Woche für Woche besser."

Qualitätssprung durch digitale Lehre

Dreimüller entwarf Module mit einem klaren Aufbau: "Am Anfang steht ein kurzes Video, eine Art Trailer, in dem wir die Lernziele erklären. Es folgt eine etwa 30-minütige Vorlesung. Außerdem nahmen wir für
jeden Krankheitsfall ein Video auf und führten Interviews mit den Betroffenen. Auf dieser Basis lernen die Studierenden, wie sie Kranke explorieren. Zu jedem Video schreiben sie dann selbst einen Befund. Zwischendurch gibt ihnen jedes Modul mehrfach die Möglichkeit, ihre Leistung zu überprüfen. Dazu versuchten wir, ganz enge Rückkopplungsschleifen zu bauen. Wir fragten die Studierenden: Was findet ihr wichtig? Was fehlt euch noch?" 14 Module entstanden und immer wieder kam sofort Feedback.

"Manche freuten sich über die Freiheit zu lernen, wann, wo und wie lange sie wollen, anderen fehlte die feste Struktur, die sie aus der Präsenzlehre gewohnt sind. Sie wollten genauer wissen, was sie in welcher Woche erledigen sollten." Also lieferte Dreimüller einen Fahrplan. "Es kam auch Kritik, dass inhaltlich mehr gefordert würde als sonst. Ich muss dazu gestehen, dass ich mich tüchtig ausgetobt hatte. Nun merkte ich: Ich hätte genauer dazuschreiben sollen, was fakultativ und was obligatorisch ist."

Live-Diskussionen, Kleingruppenarbeit und Ähnliches waren schwer zu verwirklichen. "Aber alles, was in Großgruppen und in Vorlesungen geschieht finde ich nun zehnmal so gut wie vorher. Hinzu kam, dass die Studierenden total motiviert waren – auch, was ihr Feedback anging. Die Lernendenperspektive direkt mitzubekommen und einbauen zu können, hat die Prozesse ungeheuer beschleunigt. Was sonst drei bis vier Semester an Entwicklungsarbeit beansprucht, konnten wir in wenigen Wochen erledigen, und diese schnelle Reaktion wurde extrem wertgeschätzt."

Dreimüllers Konzept sah vor, dass die Vorlesungslernziele bis Ende Mai alle abgearbeitet sein sollten, ab 1. Juni war dann wieder eingeschränkt Praxisarbeit mit Patientinnen und Patienten möglich. "Eine ausführliche Evaluation steht noch aus, aber erste Rückmeldungen der Kolleginnen und Kollegen besagen, dass unsere Studierenden besser ausgebildet sind als zuvor, und die Studierenden selbst sagen, dass sie sich sicherer fühlen." Die Oberärztin konstatiert: "Wir haben einen riesigen Qualitätssprung gemacht. Wir sollten vieles von dem, was wir jetzt entwickelt haben, in die kommenden Semester mitnehmen."

Prof. Dr. Andreas Hildebrandt, Informatik

"Man könnte denken, dass dieses Semester für uns kein Problem war", meint Prof. Dr. Andreas Hildebrandt vom Institut für Informatik. "Wir dürfen bei unseren Studierenden eine gewisse Technik-Affinität voraussetzen und auch die Tools, die für eine digitale Lehre gebraucht werden, sind nicht das Problem: Wer bei uns studiert, ist sowieso angehalten, viele davon auf dem Rechner zu haben. Tatsächlich allerdings wird Informatik ganz anders gelehrt, als sich das viele vorstellen: mit Kreide und an der Tafel. Da haben wir viel mit der Mathematik gemein. Es geht zwar auch mit einem Whiteboard, aber das ist einfach nicht dasselbe."

Informatik sei kein Fach für Eigenbrötler – im Gegenteil: "Unsere Studierenden bearbeiten die Übungsblätter aus den Vorlesungen meist in Kleingruppen. In diesen Übungen ist der Austausch sehr intensiv. Sie besprechen Lösungswege und versuchen sich gegenseitig die Sachverhalte zu erklären. So kommen sie allmählich voran und merken genau, ob sie alles verstanden haben. Am Ende können sie sehr gut einschätzen, wie weit sie wirklich sind. Diese Interaktion war im Sommersemester kaum möglich. Das verunsicherte viele. Mir persönlich fehlte dieser Aspekt auch in den Vorlesungen: Ich spreche gewissermaßen in eine Black Box hinein. Ich weiß nicht, wer zuhört, ob mir alle folgen. Das macht es für mich als Lehrenden sehr stressig. Der effektivste Teil einer Mathematik- oder Informatik-Vorlesung ist, wenn Studierende plötzlich fragen: Warum gilt das da eigentlich?"

Hildebrandt und seine Kollegen versuchten das aufzufangen. "Ich habe zum Beispiel das ein oder anderen Quiz zu meiner Vorlesung eingerichtet, damit die Studierenden ihren Lernfortschritt verfolgen können." Auch Nachfragen und Diskussionen waren möglich, aber eben auf digitalem Wege und nicht mehr so direkt und unvermittelt. "Davon haben meine Studierenden allerdings nicht so häufig Gebrauch gemacht, wie ich mir das vorstellte."

Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft

Dennoch ist Hildebrandt, seit 2017 Direktor des Gutenberg Lehrkollegs (GLK) der JGU, überzeugt, dass digitale Lehrangebote viel bringen können. "Die Folgen der Pandemie kamen ja doch sehr plötzlich auf uns zu, alles brach etwas chaotisch über uns herein. Ich kann mir kaum vorstellen, dass in dieser Situation jemand Zeit hatte, sich in der Literatur über digitale Lernkonzepte zu informieren. Die Lehrenden sprangen ins kalte Wasser und nun höre ich an vielen Stellen: Zum Glück ist das bald vorbei und wir können wieder zur Präsenzlehre zurück."

Dem widerspricht der Bioinformatiker: "Es wäre sehr schade, wenn sich all das, was im Sommersemester geschehen ist, nicht nachhaltig auf die Lehre der Zukunft auswirken würde. Ich glaube, dass in digitaler Lehre mehr drinsteckt, als wir ahnen. Um davon aber wirklich zu profitieren, brauchen wir mehr Vorbereitungszeit und auch mehr Schulungen – gerade im didaktischen Bereich." Selbst ganz einfache Fragen müssten erst noch geklärt werden: "Wie etwa wirkt sich das auf mein Lehrdeputat aus, wenn ich eine Vorlesung auf Video aufnehme? Wie wird das berechnet?"

Unter Federführung von JGU-Vizepräsident Prof. Dr. Stephan Jolie wurden bereits vor Corona Weichen im Bereich der digitalen Lehre gestellt. Unter anderem nimmt die Universität an einer Peer-to-Peer-Beratung des Hochschulforums Digitalisierung zur strategischen Ausrichtung von Lehre und Studium im Zuge des digitalen Wandels teil. "Das ist ein Glücksfall, genau wie die schnelle Einrichtung eines Kompetenzteams Digitale Lehre noch vor Beginn des Sommersemesters", sagt Hildebrandt. "Wir müssen nun darauf aufbauen." Er bekräftigt noch einmal: "Wir sind zwar bereits einen guten Schritt vorangekommen, aber wir sind noch meilenweit von dem entfernt, was digital möglich ist."