Neuer Arbeitsbereich widmet sich moderner Medienlandschaft

27.04.2021

Computational Communication Science ist eine recht junge Disziplin, in Deutschland gibt es nur sehr vereinzelt Professuren auf diesem Gebiet. Am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) wurde 2019 eigens eine solche Stelle geschaffen: Mit Prof. Dr. Michael Scharkow kam ein ausgewiesener Fachmann auf den Campus, der hier seinen neuen Arbeitsbereich aufbauen und ins Studium integrieren möchte.

Auf Dauer belastet die digitale Lehre auch ihn, obwohl er sich mit den betreffenden Medien und Technologien besser auskennt als viele andere. "Manche Dinge fallen mir vielleicht leichter", räumt Prof. Dr. Michael Scharkow ein. "Ich weiß, wie ich mit PowerPoint umgehen muss und wie ich einen Video-Podcast produzieren kann. Aber im Grunde kämpfe ich mit denselben Schwierigkeiten wie alle meine Kolleginnen und Kollegen zurzeit: Mir fehlt der persönliche Kontakt zu den Studierenden und der digitale Unterricht kann mit der Zeit ermüden. Gegen Ende des Semesters schalten viele Studierende ihre Kameras aus und ich spreche nur noch gegen eine Wand von Symbolen."

Im Oktober 2019 kam Scharkow ans Institut für Publizistik der JGU. Dort war extra eine Professur für Computational Communication Science geschaffen worden. "Davon gibt es bisher nicht mal eine Handvoll. Ich kenne eine in Wien und eine in Ilmenau. In Münster wird gerade eine weitere eingerichtet. Soweit ich es übersehe, war es das auch schon." Scharkow freut sich über die Chance, in Mainz mit einem eigenen Team einen neuen Arbeitsbereich aufzubauen.

Forschung zu Online-Nutzung und Sozialen Medien

Das Gebiet der Computational Communication Science ist recht jung. "Es stammt aus dem angloamerikanischen Bereich. Auf unseren Konferenzen rekrutieren sich etwa die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den USA, dann folgt Deutschland mit der zweiten großen Gruppe, danach kommen die Niederlande." Scharkow stellte recht früh die Weichen für sich. "Es war keine Strategie, sondern eher ein Glücksfall, dass ich mich vor 15 Jahren für etwas interessierte, das heute sehr aktuell ist. Programmieren und Computer waren einfach mein Thema." 2011 legte er an der Universität der Künste Berlin seine Dissertation zu automatischer Inhaltsanalyse und maschinellem Lernen vor. "Damals war es noch schwer, eine Betreuung dafür zu finden", erinnert er sich.

Scharkow skizziert das Feld der Computational Communication Science so: "Im Kern geht es um Mediennutzung, Medienwirkung und deren Einfluss auf Verhaltensweisen. Allerdings stützen wir uns dabei nicht so sehr auf Befragungen oder Experimente, sondern greifen auf die Datenmengen zurück, die online zur Verfügung stehen. Denn wenn Sie etwa jemanden fragen, wie lange er vorige Woche im Internet war und welche Seiten er besucht hat, wird der Betroffene Schwierigkeiten haben, Ihnen auch nur halbwegs exakt zu antworten. Die meisten überschätzen ihre Zeit online um mehr als das Doppelte. Das entdecken wir aber nur, wenn wir auf den Browser-Verlauf schauen. Unsere Forschung beschäftigt sich unter anderem damit, woher diese Verzerrungen kommen."

Befürchtungen, dass die Sozialen Medien das Blickfeld verengen, wurden in den vergangenen Jahren immer wieder laut. Auch dazu forscht Scharkow: "Tatsächlich ist es andersrum“, sagt er, "man hat mehr Vielfalt." Wobei sich diese Vielfalt weiter qualifizieren lässt: "Wir stellen zum Beispiel fest, dass Online-Nachrichten nur einen verschwindend geringen Teil des Konsums ausmachen. Sie verschwinden fast zwischen Shoppen, Spielen und anderen Interessen."

Voriges Jahr legte Scharkow gemeinsam mit zwei Kollegen eine Untersuchung vor, inwieweit große Universitäten weltweit Facebook-Posts nutzen. "Wir schauten uns die Top 50 im Shanghai-Ranking an und stellten fest, dass viele dieser Hochschulen die Kommunikation über Soziale Medien noch immer sehr laienhaft betreiben. Nur amerikanische Universitäten sind etwas weiter. Bei einigen konnten wir eine gewisse Professionalisierung ausmachen, die sich unter anderem darin niederschlug, dass sie eben nicht nur montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr posten, sondern auch mal am Wochenende Neues bringen."

Profilbildung für Computational Communication

Computational Communication Science nutzt die Flut der digitalen Daten, darauf ist diese Disziplin geradezu angewiesen. Doch werden den Forscherinnen und Forschern hier immer wieder Steine in den Weg gelegt. "Es ist technisch leicht, an Daten zu kommen, doch rechtlich-ethisch ist es schwer. Gerade die riesigen Internet-Plattformen verweigern uns oft den Zugang. Facebook gibt praktisch nichts heraus. Und wenn sie doch mal etwas preisgeben, dann sind es ausgewählte Häppchen, die ihnen sinnvoll erscheinen." Damit lasse sich kaum unabhängige Forschung betreiben. "Es wäre gut, wenn wir ermächtigt würden, auf die Daten zuzugreifen. Aktuell ist es so, dass es auf unserem Gebiet viele Untersuchungen zu Twitter gibt, weil wir dort Informationen bekommen. Aber das ist eher ein Elitenmedium. Facebook wäre interessanter."

Am Journalistischen Institut der JGU möchte Scharkow den Arbeitsbereich Computational Communication Science fest etablieren. "Im Moment ist er noch nicht im Curriculum verankert. Für mich persönlich hat das durchaus Vorteile. Ich bin dadurch in meiner Lehre nicht so festgelegt. Aber Fachleute für Computational Communication sind sehr gesucht, auch an den Universitäten. Wir bekommen sie allerdings nur, wenn wir sie auch an den Universitäten ausbilden. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Wir denken am Institut darüber nach, eine Profilbildung in diesem Bereich anzubieten. Die Kurse müssen dann nicht von allen Studierenden belegt werden, aber sie können sich auf Computational Communication Science spezialisieren, wenn sie wollen." Dies würde den Einstieg in das Berufsfeld des Datenjournalismus ermöglichen. "Das Interesse daran wächst gerade ungeheuer. Zeitungen und öffentlich-rechtliche Medien ringen um Fachkräfte."

Scharkow studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie an der Freien Universität Berlin. Unter anderem arbeitete und forschte er an den Universitäten Hohenheim und Münster. Er besuchte als Visiting Scholar die School of Communication der Ohio State University und folgte Anfang 2017 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Digitale Kommunikation an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Gut zwei Jahre später wechselte er an die JGU.

Herzlich aufgenommen in Mainz

"Es ist ein großes Privileg, eine eigens geschaffene Professur zu bekommen", meint Scharkow. "Mainz hat das größte Institut für Publizistik im deutschen Raum – zumindest mit Blick auf die Zahl der Professuren. Ich genieße es, dass ich hier nur über den Flur gehen muss, um mit einer Kollegin oder einem Kollegen ein Fachgespräch über Online-Nutzung zu halten." Er hält kurz inne. "Vor Corona war das so. Jetzt ist der Austausch etwas schwieriger." In Mainz sei er mit seinem Arbeitsbereich gut aufgestellt, Infrastruktur und Umfeld stimmten. Auch am Journalistischen Seminar gebe es mit Juniorprofessorin Karin Boczek und Frederik von Castell Fachleute mit ähnlichen Interessen, etwa in Sachen Datenjournalismus.

"Ich wurde sehr herzlich aufgenommen", erzählt Scharkow. "Ich war vorher schon öfter in der Stadt, Mainz gefällt mir sehr gut." Im März 2020 zog er mit der Familie aus Stuttgart her. "Leider hatten wir dann die meiste Zeit Lockdown, deswegen stockt die soziale Integration. Es ist auch schwierig sich einzuleben, wenn nichts offen ist." Die wissenschaftliche Produktion leidet gerade ebenfalls ein wenig: Er hat zwei Kinder zu Hause, um die er sich mit kümmert. Die Ältere wurde jüngst eingeschult. "Sie hat bislang tapfer durchgehalten mit der Maske auf dem Schulhof und Kontaktbeschränkungen."

Scharkow will sich nicht zu sehr beklagen. "Schließlich ist meine wirtschaftliche Existenz gesichert und ich bin nicht allein. Ich habe meine Familie. Anderen geht es wirklich schlecht." Doch er würde gern raus in die Stadt und hoch auf den Campus. "Im Moment ist der Lehraufwand groß, auch für unsere Studierenden. Ich mache eine gewisse Müdigkeit aus." Scharkow hofft, dass sich die Lage bald entspannt. Er freut sich auf Mainz und die Universität ohne Corona.