Das Wohl des Patienten steht im Zentrum

5. Mai 2021

Die moderne Medizin sieht sich zahlreichen ethischen Herausforderungen gegenüber. Anlässlich des 75. Jahrestages der Wiedereröffnung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) wirft der Philosoph und Mediziner Prof. Dr. Norbert W. Paul einen Blick zurück in die vergangenen Jahrzehnte und schaut zugleich auf die aktuellen Entwicklungen: Welchen drängenden Fragen muss sich nicht nur die Universitätsmedizin Mainz, sondern das Gesundheitswesen bundesweit stellen?

"Hohes Engagement und Verantwortungsgefühl kann und sollte niemand den Menschen in der Universitätsmedizin absprechen", stellt Prof. Norbert W. Paul klar. "In der Medizin ist im Moment spürbar, wie intensiv speziell über die Mechanismen der sozial verankerten Verantwortung, der 'Social Accountability', nachgedacht wird. Die Wahrnehmung kultureller Unterschiede wird immer wichtiger, die Berücksichtigung des Geschlechts oder der Rolle, in der man sich als Patient befindet. Momentan sind wir etwa dabei, eine Leitlinie zur Bluttransfusion in Bezug auf die Zeugen Jehovas zu überarbeiten. Dabei muss auch in den Blick genommen werden, wie unsere Ärztinnen und Ärzte verarbeiten können, dass ein Patient eine Transfusion ablehnt und dann verstirbt."

Der Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) konstatiert: "Das Motto 'Wir haben es schon immer so gemacht' gilt schon lange nicht mehr. Man muss sich je nach Situation immer aufs Neue entscheiden. Das macht das Geschäft der Medizin dramatisch schwieriger und es erklärt auch ein wenig den Aufschwung unseres Faches. Vor einigen Wochen kam zum Beispiel die Frage auf, ob eine Sonderpatientenverfügung für Corona-Fälle notwendig ist. Das Bundesverfassungsgericht hat ja darauf hingewiesen, dass eine Patientenverfügung möglichst konkret auf eine Situation zu beziehen ist. Wir haben es in der aktuellen Situation der Pandemie mit Fällen zu tun, in denen hochbetagte Menschen auch angesichts einer Infektion mit SARS-CoV-2 überzeugt sind: 'Wenn es mich erwischt, möchte ich keine Intensivmedizin.' Und selbst wenn wir sie beatmen dürften, müssten wir uns überlegen: Werden sie die Klinik womöglich in einem Zustand verlassen, den sie sich niemals gewünscht hätten?" Es hat sich gezeigt, dass die bestehenden Patientenverfügungen völlig ausreichen.

"Wie weit dürfen wir gehen?"

Wenn es um medizinethische Aspekte geht, ist Paul gefragt – nicht nur an der Universitätsmedizin Mainz: Seit 2004 sitzt der Philosoph und Medizinethiker in der rheinland-pfälzischen Bioethik-Kommission und auch die Industrie holt sich immer wieder Rat bei ihm. "Heute saß ich den ganzen Vormittag mit Vertreterinnen und Vertretern eines großen Pharmaunternehmens zusammen. Wir diskutierten über den Umgang mit Patientendaten."

Wenn Paul die Entwicklung der modernen Medizin im Schnelldurchlauf skizzieren soll, ist der erste Ansatzpunkt schnell gefunden: "Als Reaktion auf die menschenverachtende Medizin im Nationalsozialismus entschied man sich nach dem Zweiten Weltkrieg, die Rolle des Patienten grundlegend zu überdenken. Es gab eine Hinwendung zu externer Ethik, denn es war klar, dass es viel mehr braucht als eine Selbstverpflichtung der Medizin."

Die Zeit des Wirtschaftswunders führte zu einer umfassenden Spezialisierung: "In den 1950er- und 1960er-Jahren entstand für alles ein Untergebiet mit eigenen Fachleuten. Zuvor gab es solche Disziplinen wie die Anästhesiologie oder die Intensivmedizin gar nicht, dafür mussten erst entsprechende Wirkstoffe und Technologien entwickelt werden." Das passierte tatsächlich in rasantem Tempo. "Und gleich zu Beginn fragte man: Wie weit dürfen wir gehen?" In Mainz brachte Prof. Dr. Rudolf Frey, von 1962 bis 1981 Direktor des Instituts für Anästhesiologie, dieses Thema aufs Tapet. "Zugleich zog er aber auch alle Register, wenn es um Lebensrettung in der Notfallmedizin ging und war mit verantwortlich für die Einführung der Rettungsflüge."

Ökonomisierung der Medizin

Nach der Spezialisierung folgte die zweite Phase: "Im Zuge der Ökonomisierung der Medizin ging es vor allem um Effizienzsteigerung, um Kostenminimierung und Nutzenmaximierung. Diese Phase läuft momentan allmählich aus. Hier stellten sich neue ethische Probleme, denn aus Sicht der Ökonomie ist zum Beispiel eine kurze Liegezeit bei der Behandlung immer schwerwiegenderer Erkrankungen positiv, denn sie garantiert hohe Erträge. Aber was ist gut für den Patienten?"

Die Ökonomisierung wurde begleitet von einer Subspezifizierung. Die Medizin verzweigte sich immer weiter. "Dieser Trend löst sich gerade etwas auf. Der Weg führt nun hin zu klinischen Kompetenzzentren. Man hatte bemerkt, dass es oft am Austausch zwischen den einzelnen Fachleuten fehlt, was unter anderem einen ungeheuren Informationsverlust zur Folge hat. Es ist nicht nur effektiver, wenn Medizinerinnen und Mediziner sich über Bilder und Werte ihrer Patienten austauschen, es kommt auch den Patienten zugute. Ich glaube, Einrichtungen wie Zentren für psychische Gesundheit oder Mutter-Kind-Zentren gehört die Zukunft. Wir brauchen Plattformen, wo alle Fachgebiete zu einem Thema Hand in Hand arbeiten. Mainz steht hier beispielhaft mit seinem Schwerpunktbereich interdisziplinäre Kinderintensivstation, dem Transplantationszentrum oder der Tumormedizin."

Nach diesem Lob räumt Paul allerdings auch ein: "In einigen Bereichen können wir sicher noch besser werden. Wir müssten zum Beispiel stärker auf die Präventionsmedizin achten. Außerdem wird alles, was mit dem Alter einhergeht, uns mehr und mehr beschäftigen: Was machen wir mit betagten Patienten, die wir nach der Behandlung nicht mehr einfach nach Hause schicken können? Brauchen wir etwa neben einer Stärkung der Altersmedizin in Forschung und Lehre auch eine Pflegeeinrichtung?"

Digitale Transformation

Ein großer Themenkomplex, der mit der Corona-Pandemie zumindest ein Stück in den Vordergrund rückte, treibt Paul besonders um: Die Nutzung digitaler Medien und der Austausch von Daten. "Wir brauchen eine digitale Transformation der Medizin", fordert er. "Das haben wir in Deutschland bisher weitgehend verschlafen. Bereits in den 1970er-Jahren wollte IBM als großer Player im Gesundheitsweisen aktiv werden, später kam SAP." Doch die Bemühungen verliefen weitgehend im Sand. "Ich weiß nicht, was damals gegen eine Digitalisierung des Gesundheitswesens sprach. Heute jedenfalls übernimmt Big Pharma die Führung. Ich verstehe unsere fehlende Flexibilität auf diesem Gebiet nicht. Akademische Medizin heißt doch, in allen Bereichen, die medizinrelevant sind, alle Ressourcen optimal zu nutzen und weiterzuentwickeln."

Die Pharmakonzerne haben erkannt, wie wichtig sogenannte Real World Data für sie sein können, und sie bemühen sich darum: Sie möchten an Echtzeitdaten von Patienten kommen, um ihre Produkte zu optimieren. "Sie verstehen allerdings noch nicht so recht, dass sie dafür eine Gegenleistung erbringen, dass sie mit ihren Informationen einen Mehrwert für den Patienten schaffen müssen."

Die akademische Medizin stecke dagegen noch fest. "Wenn ich zum Beispiel mit Kolleginnen oder Kollegen in den Niederlanden, Spanien oder Griechenland auch anhand anonymisierter Daten über bestimmte klinische Fragestellungen diskutierte, antworten die: 'Schick uns doch einfach die Daten.' Ich muss ihnen dann sagen: 'Das geht auf der Basis des Datenschutzes in Deutschland nicht.'" Für Paul ist klar: "Über die kluge Digitalisierung könnten wir die Versorgungsqualität verbessern und mehr Behandlungserfolge erzielen. Wir haben hier eine ethische Verantwortung. Die digitale Transformation ist eine Herausforderung. Haben wir sie angenommen? Nein!"

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