Über den 11. September schreiben

14. Mai 2012

Mit "Ground Zero Fiction: History, Memory, and Representation in the American 9/11 Novel" hat die Amerikanistin Birgit Däwes ein 500-Seiten-Werk über die amerikanischen Romane zum 11. September vorgelegt. Dafür bekam die Juniorprofessorin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) den American Studies Network Book Prize 2012.

Mit den Terroranschlägen des 11. September 2001 schien die Welt an einen Wendepunkt gekommen zu sein. Die Bilder von den Flugzeugen, die in die Twin Towers rasten, sind bis heute allgegenwärtig. Für den Schriftsteller Paul Auster begann damit das 21. Jahrhundert und US-Präsident George Bush redete von einem zweiten Pearl Harbor. Manch anderem aber hatte es die Sprache verschlagen. "Viele Schriftsteller meinten damals, man muss darüber schreiben, aber noch nicht jetzt", erzählt Birgit Däwes. "2004 fing es dann langsam an."

Im September 2011 hat die Juniorprofessorin am Department of English and Linguistics der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) ihr Buch über die amerikanischen Romane veröffentlicht, die sich auf die eine oder andere Weise mit dem Anschlag auseinander setzen. Ground Zero Fiction: History, Memory, and Representation in the American 9/11 Novel heißt der rund 500 Seiten starke Band, für den sie den American Studies Network Book Prize 2012 bekam.

178 Romane zu 9/11

"Da war ich schon platt", sagt sie. "Das ist ein europaweit ausgeschriebener Preis, der nur alle zwei Jahre vergeben wird." In Frage kommen alle englischsprachigen Bücher, die sich mit einem Aspekt der USA befassen. Auf moderate 1.000 Euro ist die Auszeichnung dotiert. "Aber bei solchen Preisen geht es nicht ums Geld", meint Däwes, "es ist die Anerkennung, die zählt."

Paul Auster, Don DeLillo, John Updike: "Die großen weißen amerikanischen Autoren haben alle was zu 9/11 geschrieben." Aber nicht nur die. In ihrem Buch zählt Däwes 168 Werke auf. "Zuletzt habe ich 178 gezählt." Denn mit Abschluss ihrer Arbeit ist das Interesse am Thema keineswegs versiegt. "Ich muss immer noch wahrnehmen, was da erscheint." Auch die Öffentlichkeit interessiert sich. Die Amerikanistin wird viel zu Vorträgen eingeladen.

Wird das nicht langweilig?

"Am Anfang fragte ich mich: Da gibt es nun so viele Romane zum 11. September, aber wie unterscheiden die sich? Wir das nicht langweilig, immer dasselbe Thema? Ist das nicht wie bei der Titanic, wo man das Ende auch schon kennt?"

Es galt, die Werke möglichst vollständig zusammenzutragen. Ganz einfach war das nicht, denn das Label "9/11 Novel" pappt auf keiner der Veröffentlichungen – im Gegenteil. In Colum McCanns Roman Let the Great World Spin etwa betrachtet einer der Protagonisten das Bild des Hochseilartisten Philippe Petit, der 1974 sein Seil zwischen den Türmen des World Trade Centers spannte, um dort seine Kunst zu zeigen.

"McCann behauptet, in seinem Roman gehe es gar nicht um den Anschlag", erzählt Däwes. Dann präsentiert sie Seite 273 des Romans: Auf einem Foto ist ein Flugzeug zu sehen, dessen Nase auf einen der Türme weist. "Es ist das einzige Foto im Buch." Und spätestens damit gehört es in Däwes' Kanon.

Texte fügen sich zu kulturellem Gedächtnis

Die Amerikanistin hat nicht nach Niveau der Romane entschieden, was sie aufnimmt und was nicht. "Diese Diskussion habe ich oft geführt. Bekannte haben mich gefragt: 'Du hast den ganzen Schmodder gelesen?' Aber all diese Texte fügen etwas zum kulturellen Gedächtnis hinzu. Wenn ich den Zeitgeist herausschälen will, brauche ich sie." Überhaupt findet Däwes die Einteilung in hohe und in Unterhaltungsliteratur eher hinderlich als hilfreich.

Sie hat ein anderes Modell gefunden, um Struktur in die Flut der Werke zu bringen. Sie schlägt eine Typologie mit sechs Kategorien vor: Eine große Gruppe analysiert die Ereignisse des 11. September und diagnostiziert die Folgen. "Zum Beispiel für arabische Amerikaner, die schnell mit den Islamisten in einen Topf geworfen wurden." Sie hätten mit Ressentiments zu kämpfen, mit Repressalien, mit Gewalt. "Einige südasiatisch-amerikanische und arabisch-amerikanische Autoren versuchen, gegenzusteuern."

Typologie der 9/11-Romane

Andere Schriftsteller, darunter John Updike in Terrorist, versuchen die Ereignisse nachzustellen. "Dabei ist ihm die Körperlichkeit der Terroristen wichtig, es geht sehr um Verdauung, um Nahrungsaufnahme." Die werde so betont dargestellt, dass die Täter etwas Monströses bekämen. "Andere versuchen, die Terroristen in die Arme-Socke-Position reinzuschreiben", sagt Däwes. Zu diesem Ausdruck lässt sie sich allerdings nur im lockeren Gespräch hinreißen. Im Buch kommt er garantiert nicht vor.

In der wohl spannendsten Kategorie finden sich die Romane, mit denen die Autoren ihren Lesern einiges an Interpretation zutrauen. Diese Bücher kommen vielschichtig daher. Paradebeispiel ist Jonathan Safran Foers Bestseller Extremely Loud & Incredibly Close. Es ist das Buch, das Däwes die ersten Impulse für ihre Arbeit gab.

"Viele Kritker warfen den frühen 9/11-Romanen vor, sie seien ein Rückzug ins Private." Gerade Foers Werk beweise das Gegenteil. Die Geschichte des neunjährigen Jungen Oskar Schell knüpft Verbindungen zwischen Hiroshima, dem bombardierten Dresden und den Twin Towers. "Es ist ein hoch politisches Buch." Nur auf einer Ebene komme es als die Geschichte eines Neunjährigen daher.

Keine Twin Towers aus Lego

Ihre Typologie versteht Däwes als Vorschlag, nicht als Dogma. "Ich selbst habe während der Arbeit einiges modifiziert." Sicher ist sie sich allerdings, das 9/11 zumindest die literarische Welt nicht umgekrempelt hat. Die literarischen Strömungen haben sich des Themas angenommen, aber sie wurden nicht in neue Bahnen geleitet. Auch ideologisch findet sich die gesamte Bandbreite wieder, wobei viele Werke die Opferrolle der USA stark hinterfragen.

Drei Jahre dauerte die Arbeit an Ground Zero Fiction. "Das meiste habe ich in meiner Elternzeit erledigt", erzählt Däwes. Im Hintergrund prangt wie zur Illustration das Foto ihrer dreijährigen Tochter auf dem Notebook-Bildschirm. "Ich habe mir gesagt: Wenn sie anfängt, mit ihren Legos die Twin Towers nachzubauen, dann habe ich zu viel gearbeitet." Das ist offensichtlich nicht passiert. Das Töchterchen lächelt fröhlich. Von 9/11 weiß sie noch nichts.