Siri Hustvedt mag keine Grenzen

11. Juni 2012

Sie las aus ihren Büchern, diskutierte unermüdlich und debattierte zum Finale mit Fachleuten verschiedenster Disziplinen: Die Schriftstellerin Siri Hustvedt war der Star der 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien (DGfA) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Doch sie war nicht die einzige, die den mehr als 300 Gästen aus aller Welt etwas zu sagen hatte. 76 Referenten präsentierten Beiträge rund um das Thema "American Lives".

Siri Hustvedts Resümee zur Tagung fällt kurz aus, aber sehr klar. "Es ist belebend, Menschen zuzuhören, die mir etwas Neues zu sagen haben", so die amerikanische Autorin. Ähnlich belebend fanden auch die übrigen Tagungsteilnehmer und die Organisatoren Hustvedts Besuch in Mainz. "Sie hat bis spät in den Abend mit den Studierenden geredet", erzählt Prof. Dr. Alfred Hornung. Und mit Blick auf das gesamte Programm fügt er hinzu: "Dass sich alles so gut zusammenfügt, das konnten wir vorher nicht wissen."

Eine Autorin mit viel Energie

Hornungs Forschungs- und Lehrbereich American Studies am Department of English and Linguistics der JGU hat die 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien (DGfA) zum Thema "American Lives" ausgerichtet. Damit feiert der Bereich American Studies zugleich seinen 60. Geburtstag. Einigen Mitarbeitern ist am dritten und letzten Tag anzusehen, dass es viel Arbeit war. Sie wirken müde. Doch Hustvedt sprüht immer noch vor Energie. Sie schreibt Widmungen in ihre Bücher und stellt sich den Fragen am Rande der Tagung, während die anderen bei Kaffee und Kuchen Energie tanken.

"Life Writing", das (auto-)biografische Schreiben in seinen verschiedensten Ausprägungen, stand im Mittelpunkt der Tagung. Die Autobiografie von Hillary Clinton kam ebenso zur Sprache wie die Memoiren von Immigranten oder die Blogs aus dem Irak-Krieg. 2009 wurde an der JGU ein Internationales Graduiertenkolleg "Life Writing" eingerichtet, das Thema liegt also nahe.

"The Summer Without Men" – Eine Komödie ohne Männer

Mia Fredricksens Mann Boris braucht nach 30 Jahren Ehe eine Pause: "The pause was French with limp but shiny brown hair. She had significant breasts that were real, not manufactured, narrow rectangular glasses, and an excellent mind." Außerdem ist die Pause 20 Jahre jünger als Mia. Mia dreht durch: "In the end, Dr. P. diagnosed me with Brief Psychotic Disorder, also known as Brief Reactive Psychosis, which means that you are genuinely crazy but not for long. If it goes for more than a month, you need another label."

Mit The Summer Without Men hat Siri Hustvedt ihr Talent zur Komödie entdeckt. Den Roman stellte sie zusammen mit ihrem neuen Essayband "Living, Thinking, Looking" vor. Für diese Lesung waren die Tagungsteilnehmer von der Alten Mensa auf dem Universitätscampus in den Barocksaal der Industrie- und Handelskammer (IHK) am Schillerplatz gezogen.

Eine Sprache voller Klarheit

Hustvedts Sprache ist sehr klar: "Lucidity" ist ihr wichtig, sagt sie. Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil die Amerikanerin mit norwegischen Wurzeln immer wieder Ausflüge in Gebiete wagt, die nicht unbedingt für Klarheit bekannt sind. Erkenntnisse der Neurologie, Psychiatrie oder Psychologie finden viel Raum in ihren Büchern. Sie zählt zu den wenigen Literaten, die von führenden Wissenschaftlern dieser Disziplinen gehört werden. So wurde sie 2011 zur öffentlichen Diskussion mit dem Neurologen António Damásio eingeladen.

Mias Sommer ohne Männer gibt Hustvedt Gelegenheit zu einem Parforceritt durch die Geschichte der Geschlechterforschung. Mit feiner Ironie nimmt sie die Vorurteile auseinander, in denen vor allem die forschenden Herren schwelgen. So sorgte sich 1786 Paul-Victor de Sèze, dass Frauen durch zu viel Denken ihre Fortpflanzungsfähigkeit gefährden könnten. Hustvedt fasst das als "thought-shrivels-your-ovaries theory" zusammen.

Keine Kategorisierung der Geschlechter

Merkwürdige Kategorisierungen in Sachen Mann und Frau findet die Autorin bis in die Gegenwart: Frauen werden soziale Fähigkeiten zugebilligt, ein Talent für Sprachen, ein Bedürfnis nach Sicherheit. Männer dagegen denken logisch, sind aggressiv und mathematisch begabt. "It is not that there is no difference between men and women", sagt Hustvedt. "It is how much difference the difference makes, and how we choose to frame it."

Dieser Gedanke führt unmittelbar zu ihrem wissenschaftlichen Tagungsvortrag "First, Second, and Third Person Adventures in Crossing Disciplines": Die erste Person, das Ich, werde aus wissenschaftlichen Schriften verbannt, beklagt Hustvedt. Dabei sei gerade dieses Ich, seine Subjektivität und seine Sozialisierung, ein wesentlicher Antrieb des Forschens. Doch auch hier fänden Dualitäten ihren Niederschlag, die fest im Denken westlicher Philosophie verwurzelt sind: Gefühl gegen Verstand, Körper gegen Geist, warm gegen kalt, Frau gegen Mann. Solche Grenzen mag Hustvedt nicht. "Break them down", fordert sie.

Eine Autorin und ihre Fans

Ob Lesung oder Vortrag, um die Schriftstellerin schart sich regelmäßig eine Fangemeinde. Und Hustvedt gibt allen entspannt Auskunft – bis der nächste Tagesordnungspunkt naht. Die Podiumsdiskussion "Life Sciences and Life Writing" soll einerseits die Tagung beschließen, andererseits den Bogen von den Geistes- zu den Naturwissenschaften, vom (auto-)biografischen Schreiben zu den Lebenswissenschaften, schlagen.

"Vor einigen Tagen kam ein Junge in unsere Klinik. Nach der Rettung vor dem plötzlichen Kindstod durch seine Großmutter leidet er an schweren Hirnschäden. Die Hirnsubstanz zerfällt langsam, aber der biologische Tod ist nicht in Sicht." Prof. Dr. Norbert Paul, Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universitätsmedizin Mainz, erzählt vom Schicksal des Jungen und konstatiert, dass ihm als Mediziner genau das fehlt: Eine Erzählung vom Leben des Jungen jenseits der medizinischen Diagnose. Hier könnten Geisteswissenschaften, hier könnte Life Writing helfen, um Entscheidungen zu treffen, um den Patienten nicht nur als Körper zu sehen.

Eine Ende als guter Anfang

Diese Verbindung von Naturwissenschaft und Erzählung vertritt Hustvedt in vielen ihrer Bücher. Entsprechend lebhaft geriet der Dialog auf dem Podium zwischen einem Amerikanisten, drei Amerikanistinnen, der Autorin und zwei Vertretern aus dem Bereich der Lebenswissenschaften. Hustvedt wünscht sich, dass die Spezialisten über ihre Tellerränder schauen, auch die Autoren. "Wer einen Roman über einen Alzheimerpatienten schreibt, wird nicht ernst genommen, wenn er nicht die neueste Forschung einbezieht", kritisiert sie und träumt von ihrem Utopia: "Das wäre, wenn die Menschen sich endlich auch mit fremden Disziplinen befassten."

Das Ende der Tagung "American Lives" schien ein guter Anfang zu sein. Oft sind abschließende Diskussionen auf Tagungen schlecht besucht, die Teilnehmer brechen gern früher auf, um günstige Bus- oder Bahnverbindungen zu nutzen. Das war in Mainz anders. So recht wollte sich niemand trennen. Und auch Siri Hustvedt kam nicht vom Fleck: Hier und da gab es noch ein paar Fragen zu beantworten.