Raus aus der Schule, rein in die Welt

19. Juni 2017

Einmal pro Woche verlassen Schülerinnen und Schüler ihr Klassenzimmer, um den Wald zu erkunden, eine Bäckerei zu besuchen oder im Museum zu forschen: Das Modell der Draußenschule ist in den skandinavischen Ländern schon sehr verbreitet, für Deutschland jedoch ist es noch recht neu. Ein dreijähriges Projekt unter Federführung von Prof. Dr. Matthias D. Witte und Prof. Dr. Marius Harring vom Institut für Erziehungswissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) stellt erste Weichen, um die Draußenschule auch hierzulande populär zu machen.

Der klassische schulische Lernort ist das Klassenzimmer. "Dort haben wir es mit einer immer gleichen, wenig anregungsreichen Umgebung zu tun und mit Kindern, die sich zumindest physisch wenig bewegen", meint Prof. Dr. Matthias D. Witte. "Das muss nicht schlecht sein", räumt der Sozialpädagoge ein, "aber wir haben uns gefragt: Wie können wir Lernen und Bildung erfahrungsreicher und Schule offener gestalten?"

Die beiden Arbeitsgruppen Schulpädagogik und Sozialpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der JGU stießen auf ein Modell, das in den skandinavischen Ländern, in Schottland, Australien und Neuseeland schon recht verbreitet, in der Bundesrepublik jedoch wenig bekannt ist und kaum praktiziert wird: die Draußenschule. "Ursprünglich waren wir auf der Suche nach neuen Lern- und Bildungsformen für Kinder und Jugendliche sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Kontext. Wir trafen dann auf das, was in Dänemark "Udeskole" genannt wird."

Die Schulklassen gehen regelmäßig nach draußen, mindestens an einem Schultag im 14-Tages-Rhythmus. Was in Deutschland im Rahmen eines Wandertages oder einer Exkursion nur als einzelne Veranstaltung vorkommt, wird in der Draußenschule verstetigt und an den Regelunterricht gekoppelt. "Rund 30 Prozent der Schulen in Skandinavien praktizieren das", sagt Sarah Sahrakhiz, die Koordinatorin des Projekts, "und zwar nicht nur die Grundschulen, sondern auch die weiterführenden Schulen."

Unterricht in Bewegung

Sahrakhiz und Witte von der AG Sozialpädagogik haben sich im Büro des Professors getroffen, um von ihrem dreijährigen Projekt der Draußenschule zu erzählen – von den Grundgedanken, der erprobten Praxis an drei recht unterschiedlichen Schulen und den Ergebnissen ihrer begleitenden Forschung.

Das Büro zeugt von einem gewissen Bewegungsdrang. Neben dem Bücherregal mit Fachliteratur und dem Schreibtisch mit Papierstapeln und Ordnern liegen Bälle verschiedenster Größe, und am Schrank hängt ein Basketballkorb im Miniformat, der zum Spielen einlädt. Witte räumt ein, dass es ihm schwer fällt, die Hände still zu halten. Als direkte Motivation für seine Beschäftigung mit der Draußenschule würde er diesen Bewegungsdrang allerdings nicht sehen, meint er lächelnd. Das wäre wohl zu kurz gefasst.

Dabei geht es in der Draußenschule im Grunde um Bewegung – und das in vielfacher Hinsicht: Bewegung führt aus der Schule heraus und sorgt für Bewegung in der Klasse selbst, für Bewegung im Verhältnis zwischen Lehrkörper und Schülerschaft. In bewegter Umgebung kommt auch Bewegung ins Lernen und Lehren.

"Uns war es wichtig, dass wir eng mit der Praxis zusammenarbeiten.", betont Witte. Das Mainzer Forscherteam konnte den Deutschen Wanderverband als Partner gewinnen. Ein Antrag auf Förderung über das Bundesprogramm Biologische Vielfalt des Bundesamts für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit stellte das Unternehmen "Draußenschule" dann auch finanziell auf sichere Füße.

Vor Ort individuell wachsen

Aus über 50 Bewerberschulen wurden drei Klassen an drei verschiedenen Grundschulen für das Projekt ausgesucht. Zwei der Schulen liegen im ländlichen Raum, eine im großstädtischen Bereich, damit waren die Ausgangssituationen recht unterschiedlich. "Wir haben Grundschulen gewählt, weil dort der Unterrichtsstoff der Fächer meist nur von einer Lehrperson vermittelt wird", erklärt Sahrakhiz. "Da lässt sich die Draußenschule eher in den Lernalltag integrieren." Einige Eltern äußerten die Befürchtung, dass die Vermittlung von Unterrichtsstoff bei dem Projekt auf der Strecke bleiben könnte. "Die Lehrerinnen der Modellklassen haben Gespräche geführt und die Unterrichtsinhalte an den Draußentagen transparent gemacht, um solche und andere Bedenken auszuräumen."

Für zwei Schuljahre sollte es nun bei jedem Wetter einmal in der Woche nach draußen gehen – mit dem Ziel, Strukturen für eine Etablierung der Draußenschule auch über die Dauer des Projekts hinaus zu schaffen. "Wir sind nicht mit einem fertigen Lehrkonzept an die Schulen herangetreten, sondern haben gemeinsam mit dem Wanderverband die drei beteiligten Lehrerinnen dabei unterstützt, eigene Methoden und Ansätze zu entwickeln", erzählt Witte. "Wir wollten nicht zu viel vorgeben, es sollte vor Ort individuell etwas wachsen." – "Wir wollten auch keine zusätzlichen Themen in den Schulalltag bringen", ergänzt Sahrakhiz. "An Schulen gibt es schon genug Extraprogramme. Es geht um die Vermittlung des alltäglichen Unterrichtsstoffs."

Netzwerker des Wanderverbands standen den Lehrerinnen zur Seite, um Kontakte mit lokalen Partnern zu knüpfen. Denn schließlich stellt sich unmittelbar die Frage: Wohin soll es nun Woche für Woche gehen? "Draußen muss nicht immer die freie Natur sein", stellt Sahrakhiz klar, "das kann auch ein Museum sein, eine Bäckerei oder sogar ein Kaufhaus."

Im Zuge des Projekts gab die JGU einen Film in Auftrag, der ein lebendiges Bild von der Draußenschule zeichnet: Ein Förster untersucht mit den Schülerinnen und Schülern einen abgestorbenen Baum, eine Erzählung aus der Region wird am entsprechenden Ort vorgelesen, ein Mathe-Spiel im Freien bringt Leben in die Klasse. In dem 20-Minuten-Film "Draußenschule – Lernen im Leben" kommen Kinder, Eltern, Lehrerinnen sowie die Projektpartner aus Wissenschaft und Praxis zu Wort.

Herausforderung und Chance

"Wir haben die Klassen mehrfach begleitet und alle Beteiligten regelmäßig befragt", erzählt Witte. "Wir haben miterlebt, wie neue Bildungslandschaften entstanden sind. Die Draußenschule bietet sehr viele Möglichkeiten des Lernens. Neben dem klassischen Unterrichtslernen fördert sie unter anderem auch soziales Lernen. Die Kinder treten viel intensiver miteinander in Kontakt." Oft wurden feste Strukturen und Rollenbilder aufgebrochen – aber nicht immer. "Vereinzelt scheinen Strukturen auch zementiert worden zu sein, aber das müssen wir uns noch genauer ansehen."

"Natürlich ist die Draußenschule eine Herausforderung für die Lehrenden", meint Sahrakhiz. "Es entstehen viele Impulse durch die wechselnde Umgebung, aber die Lehrerinnen können nicht jedem dieser Impulse nachgeben." Draußenschule ist eine Chance, den Unterricht flexibel zu gestalten, informelle Lerngelegenheiten aufzugreifen und in das Klassenzimmer mitzunehmen, doch das macht auch Arbeit.

"Die Kinder legten viel Wert auf das freie Spiel, und sie brachten oft etwas von sich aus ein." Sie entwickelten an Draußentagen im Wald neue Spielgewohnheiten und bezogen die Natur zunehmend mit ein. "Das allerdings musste erst nach und nach wachsen. Deswegen ist es so wichtig, dass Draußenschule kein Einzelereignis bleibt, sondern zu einem steten Angebot wird."

Auch die Interaktion mit den Menschen vor Ort verbucht Sahrakhiz als großen Pluspunkt. "Im Klassenraum haben die Kinder praktisch keine Gelegenheit zu solchen Kontakten. Und es findet eine Wertschätzung auf beiden Seiten statt: Es hat zum Beispiel auch dem Förster gut getan, dass da eine Klasse kam, die sich für seine Arbeit begeisterte."

Schul- und Sozialpädagogik

An der JGU konnte die Projektgruppe mit zwei Professoren zwei wichtige Aspekte vereinen: Prof. Dr. Marius Harring hatte vor allem die Schulentwicklungsprozesse im Blick, die nötig sind, damit eine Schule zur Draußenschule wird, wohingegen Prof. Dr. Matthias Witte aus sozialpädagogischer Perspektive betrachtete, wie Kinder und Lehrerinnen die Draußenschule erleben und mit der neuen Unterrichtsituation umgehen.

Neben dem Film gab es zum Projekt bereits einige Veröffentlichungen auf den herkömmlichen akademischen Kanälen. "Und bei einer Fachtagung kamen Lehrkräfte auf uns zu, die uns sagten: Wir machen das jetzt auch, wir machen Draußenschule", berichtet Sahrakhiz. Zudem entwickelte sich ein reges internationales Netzwerk. "Wir haben Kolleginnen und Kollegen aus Dänemark besucht und stehen seitdem in regem Austausch miteinander." Die Draußenschule entpuppt sich als internationale Bewegung.

Gegen Ende des Projekts werden die Teams von JGU und Deutschem Wanderverband noch eine Handreichung herausgeben. Sie entsteht in enger Zusammenarbeit mit den Modellschulen und soll anderen Schulen einen Ratgeber an die Hand geben, wie sie den Weg zur Draußenschule beschreiten können.

Derzeit schauen Witte, Harring und Co. sich nach neuen Partnern und Förderern um, mit denen sie das Thema weiter voranbringen können: "Wir wollen die Diskussion um die Draußenschule weiter führen. Sie gibt uns so viele Chancen, Lernen und Bildung neu zu gestalten."