"Forschung ist immer auch sehr biografisch"

20. Mai 2019

Im Jahr 2017 folgte Veronika Cummings dem Ruf auf eine Professur für Humangeografie an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Aktuell forscht sie vor allem zu sozialen, kulturellen und politischen Aspekten der Migration. Aus ihrer Zeit in Singapur und im Sultanat Oman bringt sie einige Erfahrungen und Erkenntnisse mit. Davon erzählt sie – und von ihrer Rückkehr nach Deutschland.

"Wer aus einem Land flüchtet, in dem Krieg herrscht, hat keinen Kopf dafür, 40 Stunden pro Woche in einem Integrationskurs systematisch die deutsche Sprache zu lernen. Diese Menschen haben andere Sorgen", stellt Prof. Dr. Veronika Cummings fest. "Aber Integration bedeutet vor allem das: die deutsche Sprache lernen." Das sei beileibe nicht selbstverständlich, meint die Geografin. In anderen Ländern würden völlig andere Prioritäten gesetzt.

Auch die institutionalisierte Praxis des Sprachenlernens nimmt sie im Vorübergehen unter die Lupe. "Cafés, in denen sich Menschen verschiedenster Herkunft treffen und miteinander unterhalten, sind wahrscheinlich effektiver. In einem Integrationskurs ist es doch so: Es sind vielleicht 20 Nationalitäten vertreten, damit stellt sich gleich zu Beginn die Frage, in welcher Sprache man unterrichtet." Die Antwort darauf sei oft ein hilfloses Achselzucken. "Also fängt man bei Null und mit Deutsch an."

Favelas in Brasilien

Ihr Büro am Geographischen Institut der JGU bezog Cummings im Jahr 2017. Die weite Fensterfront gibt den Blick frei auf den Gutenberg-Campus, am Horizont ist der Taunus zu erahnen. "In Singapur schaute ich auf einen subtropischen Campus de luxe. Dafür waren die Räume mikroskopisch klein und es stellte sich die Frage: Wer bekommt überhaupt ein Fenster?" Hier, im zweiten Stock der Naturwissenschaftlichen Fakultät, hat sie Platz. Ihr Büro bietet Raum zur Entfaltung. Das weiß sie zu schätzen.

Im Gespräch stellt Cummings gern Szenen oder Situationen wie diese nebeneinander. Mit wertenden Vergleichen und Schlussfolgerungen allerdings geht sie vorsichtig um. "Ich bin keine Freundin von komparatistischer Forschung", bemerkt sie. "Aber wir können aus Beispielen und einem Perspektivwechsel immer lernen, wie etwas unter anderen Bedingungen funktioniert." Das scheint einer ihrer zentralen Leitsätze zu sein.

"Ich bin in Karlsruhe geboren, aber in Franken aufgewachsen", erzählt Cummings. "Das Frankenland ist meine Heimat." Sie studierte Geografie in Würzburg und im nordfranzösischen Caen. Im Zuge einer Projektassistenz bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit erstellte sie ihre Diplomarbeit in Madagaskar. Ihre Dissertation an der Universität Passau führte sie ins brasilianische Salvador da Bahia. Dort untersuchte sie die soziale und räumliche Ungleichheit in den Favelas. "Es ging um stadtgeografische Prozesse, aber auch um Fragen nach Stigmatisierung und Exklusion, nach Verantwortung und Werten."

Sozialgeografie, Urbanitäts-, Entwicklungs- und Globalisierungsforschung sind ihre Schwerpunkte. Migration, Identität und Zughörigkeit, soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit entwickelten sich zu ihren großen Themen. "In meiner Arbeit spielen ethnografische Methoden eine wichtige Rolle", sagt sie. "Ich fokussiere auf das Kleine, auf den einzelnen Menschen und lokale Verhältnisse, um von dort aus globale Entwicklungen zu betrachten."

Migration im Sultanat Oman

2009 kam Cummings als Postdoc-Assistentin zur Arbeitsgruppe Kulturgeografie der RWTH Aachen – und von dort als Visiting Assistant Professor an die German University of Technology in Muscat im Sultanat Oman, die mit Aachener Unterstützung aufgebaut wurde. "Eigentlich wollte ich immer schon in die Arabische Welt. Nun beschäftigte ich mich intensiv mit Oman und den anderen Golfstaaten."

Sicher ließe sich viel dazu sagen. Cummings greift einen Aspekt heraus: Sie erzählt, wie das Thema Migration im Sultanat und in den Nachbarstaaten gesehen wird. In Oman sind nur knapp 50 Prozent Einheimische. Mit Blick auf Deutschland fragen viele: Was für ein Problem habt ihr eigentlich? Und: Warum wollt ihr die Leute integrieren?

In den arabischen Golfstaaten gebe es sehr klare Regelungen: "Wenn Menschen zum Arbeiten ins Land kommen, wird angenommen, dass sie auch wieder gehen. Gäste bleiben nicht. Der Herr, der jemanden in Dienst nimmt, wird zu einer Art Vormund. Die gering entlohnten Arbeitsmigrantinnen und -migranten geben bei der Einreise vielfach noch immer ihre Papiere beim Arbeitgeber ab."

"Wir haben es mit sehr klar benannten Zweiklassengesellschaften zu tun, in denen Rechte und Pflichten der nur auf Zeit Zugewanderten genau festgelegt sind." Sicherheit allerdings, für den Fall, dass etwas schiefläuft, gebe es nicht. Die Gerichtssprache ist Arabisch, wer sie nicht beherrsche, habe häufig schlechte Chancen in einem Arbeitsgerichtsverfahren um Lohnzahlungen, Kündigungen oder Ähnliches. "Außerdem werden kaum Organisationen anderer Staaten zugelassen, die sich um die Rechte eigener oder internationaler Staatsangehöriger in den arabischen Golfstaaten bemühen könnten." In den letzten Jahren jedoch verstärke sich der internationale Druck, hier etwas zu ändern – auch weil die Arbeitsskandale rund um die FIFA-WM 2022 in Katar viel Aufmerksamkeit erregt hätten.

Multikulturelles Singapur

2015 wechselte Cummings als Senior Research Fellow an das Middle East Institute der National University of Singapore – und sah sich mit einer völlig anderen Situation konfrontiert. "Singapur bekennt sich dazu, ein multikultureller Staat zu sein. Es gibt mehrere Verkehrssprachen. Wenn ich allerdings davon rede, dass Singapur in dieser Hinsicht eine Erfolgsgeschichte ist, höre ich in Deutschland regelmäßig Kritik: Schließlich kennt es keine Demokratie nach europäischem Verständnis und das Staatssystem ist so ausgerichtet, dass jeder gläsern und alles transparent ist. Es gibt auch hier, vereinfacht gesagt, zwei Klassen von ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern: die gut ausgebildeten und spezialisierten Expatriats, die viele Privilegien genießen, und die Labour Migrants, die für einfache Dienstleistungen benötigt werden."

Selbstverständlich könne Singapur unmöglich als Blaupause für europäische Staaten herhalten. "Ich kann nicht einfach verkürzt fragen: Was klappt und was nicht? Das kann nicht funktionieren. Ich darf meine Beobachtungen nie von dem Kontext loslösen, in dem etwas funktioniert." Dies vorausgesetzt, sei der kritische Blick über den Tellerrand allerdings sehr aufschlussreich.

2017 folgte Cummings dem Ruf auf eine Professur für Humangeografie an die JGU. Aus Singapur reiste sie gemeinsam mit ihrem australischen Mann an. "Es war sehr spannend zu sehen, wie hier die Frage der Integration behandelt wird." Nach den Flüchtlingswellen von 2015 und 2016 mit einem Nichteuropäer nach Deutschland zu kommen, bezeichnet sie in der Rückschau als "lehrreiches Selbststudium deutscher Bürokratie und Rechtsstaatlichkeit".

Nach diesen Eindrücken aus Oman, Singapur und Deutschland stellt Cummings fest: "Forschung ist immer auch sehr biografisch. Das treibt einen an. Es ist kein Job, den man von neun bis fünf ausübt, um dann einfach nach Hause zu gehen."