Von der unterschätzten Diversität menschlicher Sprachen

26. November 2019

Die Sprachwissenschaftlerin Dr. Uta Reinöhl forscht zu grammatischen Strukturen in unterschiedlichen außereuropäischen Sprachen. Sie kam im Februar 2019 als Leiterin einer frisch gegründeten Emmy Noether-Nachwuchsgruppe ans Department of English and Linguistics der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Nur drei Monate später erhielt sie den Heinz Maier-Leibnitz-Preis, die wichtigste Auszeichnung für wissenschaftliche Nachwuchsförderung in Deutschland.

"Mich interessiert, wie sehr sich die Sprachen der Welt ähneln, aber vor allem auch, wie unterschiedlich sie sind", erzählt Dr. Uta Reinöhl. Denn gerade die Unterschiede seien in der Geschichte der Linguistik lange unterschätzt worden. "Der Fokus richtete sich meist auf die europäischen Sprachen. Noam Chomsky ist bis heute extrem prägend für unsere Disziplin. Sein Einfluss hat dazu geführt, dass speziell das Englische in den Vordergrund rückte und man lange nach Universalien suchte, die alle Sprachen verbinden. Man nahm zum Beispiel an, dass jede Sprache zwischen Nomen und Verben unterscheidet. Aber das ist mittlerweile gar nicht mehr so klar."

Reinöhl kam im Februar 2019 von der Universität zu Köln ans Department of English and Linguistics der JGU, um die Leitung einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Emmy Noether-Nachwuchsgruppe zu übernehmen.

Wie werden aus Wörtern Sätze?

In ihrem Büro hängt eine große Tafel an der Wand. Sie ist mit Notizen übersät, die erste Hinweise auf Reinöhls Arbeit bieten. "hiva – song, sing" steht dort unter anderem geschrieben. Damit ist der Umstand skizziert, dass in der austronesischen Sprache Tonganisch Worte sowohl als Substantive als auch als Verb verwendet werden können: "hiva" steht für "Lied", gleichzeitig aber auch für "singen". "Es kommt ganz darauf an, wie es in einen Satz eingebaut wird."

Eine andere Sprache, die Reinöhl seit einigen Jahren intensiv erforscht, ist Kera'a. Nur noch einige Tausend Menschen in Nordostindien beherrschen diese sino-tibetische Sprache, sie ist also noch ein recht weißes Feld auf der Landkarte der Linguistik. Reinöhl ist dabei, sie zu lernen, aufzuzeichnen und zu analysieren. "Kommenden Monat werde ich wieder in die Region reisen", kündigt sie an.

Reinöhl schaut mit ihrer Nachwuchsgruppe sehr bewusst über die Grenzen des europäischen Sprachkosmos hinaus. Neben Kera'a und Waima'a stehen das vedische Sanskrit aus Indien sowie das Wapiri, eine Sprache aus Zentralaustralien, im Mittelpunkt ihrer Forschung. "Wir wollen die Frage klären, wie in menschlichen Sprachen aus einfachen Elementen komplexe Gebilde entstehen, wie etwa aus Worten Sätze werden. Dabei konzentrieren wir uns auf außereuropäische Beispiele, weil wir eine möglichst große Bandbreite sprachlicher Diversität erfassen wollen." In diesem Bereich sei bisher nur wenig geforscht worden und auch eine theoretische Aufarbeitung fehle noch.

Sprachen ohne gemeinsamen Nenner

Für ihre Forschung wurde Reinöhl bereits mehrfach ausgezeichnet und mit hochkarätigen Förderungen bedacht: Ihre Doktorarbeit zum Thema "Grammaticalization and the rise of configurationality in Indo-Aryan" hielten sowohl die Universität zu Köln als auch die Deutsche Gemeinschaft für Sprachwissenschaft und die Studienstiftung des Deutschen Volkes für preiswürdig. Ein Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung ermöglichte ihr einen zweijährigen Forschungsaufenthalt an der Australian National University in Canberra. Und jüngst erhielt sie den mit 20.000 Euro dotierten Heinz Maier-Leibnitz-Preis der DFG und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die wichtigste Auszeichnung zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland.

Seit 2018 leitet Reinöhl das Teilprojekt "Predicating in Indo-Aryan" im Sonderforschungsbereich "Prominence in Language" an der Universität zu Köln und das DFG-Projekt "VedaWeb", das in Kollaboration mit der Universität Zürich eine Forschungsplattform für altindische Texte aufbaut. Auf die Frage, warum sie nun für ihre Emmy Noether-Forschungsgruppe zum Thema "Non-hierarchicality in grammar. Construction formation without word class distinction across categories and languages" die JGU als Standort wählte, hat sie eine klare Antwort parat: Der renommierte Linguist Prof. Dr. Walter Bisang vom Department of English and Linguistics war ein Hauptgrund. "Mit ihm habe ich sehr viele Anknüpfungspunkte, zum Beispiel das Interesse fürs Sino-Tibetische, aber auch zahlreiche theoretische Aspekte."

Die beiden verbindet unter anderem die Überzeugung, dass die Suche nach den Universalien, die sämtlichen Sprachen gemeinsam sein sollen, eher nicht weiterbringt. "Die These, dass alles auf einen gemeinsamen Nenner heruntergebrochen werden kann, wurde mit wenigen Ausnahmen widerlegt, wie zum Beispiel, dass wahrscheinlich alle Sprachen Demonstrativpronomen wie 'dieser' oder 'jener' aufweisen", sagt Reinöhl. "Es ist mittlerweile klar, dass es kaum Universalien gibt. Sehr viele Annahmen, auch die, dass es in jeder Sprache Nomen gibt, wurden mit der Zeit verworfen."

Vielfalt vom Aussterben bedroht

Bestenfalls ließen sich einige Wenn-dann-Regeln aufstellen: "Wenn es in einer Sprache das Strukturprinzip A gibt, dann gibt es auch das Strukturprinzip B. Es gibt zum Beispiel in einigen Sprachen neben dem uns geläufigen Singular und Plural auch den Dual. Wir können nun davon ausgehen, dass eine Sprache, die eine Kategorie für Dual bereithält, auch den Plural kennt."

Reinöhl richtet ihren Blick lieber auf die Diversität – eine Diversität, die allerdings im Schwinden ist, während die Sprachwissenschaft noch darum ringt, sie in ihrer ganzen Breite zu erfassen. "Mich interessiert der Variationsraum menschlicher Sprachen", sagt sie. "Ungefähr 6.000 existieren auf der Welt, aber 80 Prozent davon wird es bald nicht mehr geben." Denn die großen Sprachen verdrängen die kleinen, besonders Englisch, aber auch Spanisch, Indonesisch, Hindi, Arabisch oder Mandarin setzen sich stärker und stärker durch.

"Tatsächlich aber gibt es keine Sprache, die aus sich heraus mehr oder weniger Potenzial mitbringt. Wir wissen, dass das nicht stimmt. Der springende Punkt ist, dass die Leute selbst ihre Sprache aufgeben: Auf der ganzen Welt wollen Eltern, dass ihre Kinder bessere Chancen haben, also sollen sie die vorherrschende Sprache lernen. So verschwinden nicht nur die Dialekte, sondern auch Sprachen. Dabei sind sie ein Fenster in unsere Köpfe, ein Ausdruck von Identität, der so für immer verloren geht."