Sozialsimulation bietet belastbare Zukunftsszenarien

16. Januar 2020

Die Computersimulation wird mehr und mehr zum Werkzeug für die Prognose gesellschaftlicher und sozialer Entwicklungen. Sie manifestiert sich als ein wichtiger Faktor für politische Entscheidungen. Prof. Dr. Petra Ahrweiler vom Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) ist eine der führenden Wissenschaftlerinnen auf diesem Gebiet. Unter anderem beriet sie die irische Regierung und die Europäische Kommission.

2010 schlüpfte Irland unter den Europäischen Rettungsschirm. Es flossen Milliardenhilfen in den maroden Staatshaushalt. "Auf der einen Seite dachte die irische Regierung seinerzeit natürlich viel über sparpolitische Maßnahmen nach", erklärt Prof. Dr. Petra Ahrweiler. "Auf der anderen Seite aber brachte sie ein Innovationsprojekt auf den Weg: Sie wollte über eine Reihe von Maßnahmen die Wirtschaft wieder in Gang bringen. Industrie und Wissenschaft sollten enger miteinander verzahnt werden. Über die Forschung sollten Innovationen initiiert werden. Darüber wollte Irland auch versuchen, Start-ups zu fördern, kleine und mittelständische Unternehmen anzusiedeln."

Die irische Regierung holte Ahrweiler als Stiftungsprofessorin an die Michael Smurfit School of Business des University Colleges Dublin. Dort wurde sie zur Direktorin der Innovation Research Unit (IRU) ernannt. "Man hatte drei Maßnahmen im Sinn, um den Technologietransfer zu fördern: Es sollten nur noch Bereiche an den Universitäten gefördert werden, die ein hohes Potenzial für die Wirtschaft bieten." Bislang verfügte jede Universität über einen Inkubator, eine eigene Technologietranfer-Einrichtung. Das sollte sich ändern. "Die Regierung hatte vor, diese Inkubatoren nicht mehr zu fördern, sie wollte stattdessen eine zentrale Stelle schaffen. Das wäre weltweit einmalig gewesen. Und dann sollte etwas entstehen, das unseren Fraunhofer Instituten entspricht: ein Bindeglied zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Die große Frage aber war: Ist das sinnvoll?" Diese Frage sollten Ahrweiler und ihr Team beantworten.

Simulationsplattform SKIN

"Wir machen Politikberatung, Policy Modelling ist mein Feld", sagt die Leiterin des Arbeitsbereichs Technik- und Innovationssoziologie, Simulationsmethoden am Institut für Soziologie der JGU. Dafür entwickelte sie im Laufe der letzten 15 Jahre die Simulationsplattform SKIN (Simulating Knowledge Dynamics in Innovation Networks). "Es handelt sich um ein Open-Source-Modell, das mittlerweile vielfach im Gebrauch ist."

In Irland spielte Ahrweilers Team jene drei Maßnahmen durch. Die Plattform wurde mit möglichst detailgetreuen Daten gefüttert. "Wir mussten erst einmal viel empirische Forschung betreiben, um herauszufinden, wie wir die künstliche Welt im Computer bauen sollten. Wir arbeiten mit agentenbasierter Simulation, das heißt: Jeder relevante Faktor wird durch einen eigenen Agenten repräsentiert, der dann entsprechend seiner jeweiligen Eigenschaften agiert." Damit entwickelt Ahrweiler belastbare Zukunftsszenarien. "Wir bieten keine absoluten Gewissheiten, wir spielen durch, was unter welche Voraussetzungen wahrscheinlich ist."

Die irische Regierung war weder Willens noch finanziell in der Lage, ihre Ideen einfach in die Tat umzusetzen, um dann zu schauen, was passiert. "Wir können in den meisten Fällen nicht einfach in der realen Welt experimentieren", stellt Ahrweiler klar. "Wenn Sie etwa überlegen, ob es sich lohnt, alleinerziehende Mütter finanziell zu unterstützen, können Sie nicht den Müttern in Mainz über eine bestimmte Zeit eine gewisse Summe zahlen und die Mütter in Wiesbaden leer ausgehen lassen, um dann zu analysieren, was passiert. Das wäre ungerecht und unmenschlich. In unserer Simulation aber können wir solche Dinge tun."

Unabhängige wissenschaftliche Expertise

2013 wurde Ahrweiler ans Institut für Soziologie der JGU berufen, bis 2017 allerdings war sie beurlaubt: Sie leitete als Direktorin und Geschäftsführerin die European Academy of Technology and Innovation Assessment in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Unter anderem evaluierten Ahrweiler und ihr Team das siebte Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Kommission. "Wir schauten uns auch das Folgeprogramm Horizon 2020 im Voraus an, um herauszufinden: Was bringen die geplanten Strategien?"

Solche Aufgaben sind attraktiv, gerade für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Noch interessanter wird die Arbeit dadurch, dass Ahrweilers Team ausgesprochen interdisziplinär zusammengesetzt ist: Fachleute aus der Informatik, der Soziologie, der Mathematik, der Philosophie und der Psychologie sind vertreten. "Es gibt allerdings ein großes caveat: Nach dem EU-Auftrag etwa durften wir über drei Jahre hinweg nichts publizieren, aber Doktorandinnen und Doktoranden sowie Postdocs sind auf Publikationen angewiesen. Das ist jedes Mal eine Schwierigkeit."

Eine ganz andere Schwierigkeit könnte darin liegen, dass die jeweiligen Auftraggeber Einfluss auf Ahrweilers Arbeit nehmen wollen, dass sie allzu spezifische Erwartungen äußern oder Bedingungen stellen. Doch diese Bedenken schmettert die Soziologin ab. "Anders als eine Unternehmensberatung können wir uns unsere Klienten sehr genau aussuchen und von dieser Freiheit machen wir Gebrauch." Beurteilungen oder Empfehlungen gibt sie sowieso nicht ab: "Wir präsentieren Forschungsergebnisse. Was damit dann gemacht wird, liegt in den Händen der gewählten Volksvertreter."

Social Simulation Conference an der JGU

Die Simulation von sozialen Systemen am Computer kann nicht nur helfen, wenn es um Innovationen geht. Auch die Dynamik sozialer Entwicklungen, die Verbreitung politischer Einstellungen und vieles mehr lässt sich damit ausloten. Simulationsplattformen werden eingesetzt, wenn es um Themen wie Mobilität oder Verkehr, Stadt- oder Bevölkerungsentwicklung geht. "Unsere Scientific Community ist in der 1993 gegründeten European Social Simulation Association organisiert", erzählt Ahrweiler. "Ich gehöre zum Management-Komitee. Die ESSA lädt jedes Jahr zu einer Social Simulation Conference ein. Wir wählen jeweils eine attraktive europäische Großstadt aus: 2018 waren wir in Stockholm, davor in Dublin und Rom."

2019 ging es nach Mainz: Vom 23. bis zum 27. September trafen sich gut 200 Fachleute auf dem Campus der JGU. 120 Papers waren eingereicht worden, allein 50 Stunden reine Vortragszeit waren eingeplant. Erstmals stand das Treffen unter einem Motto: "Policy Modelling". "Damit wollten wir ganz besonders auch die politischen Entscheidungsträger einbinden." Unter anderem kam die rheinland-pfälzische Ministerin für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie, Sabine Bätzing-Lichtenthäler.

Auch Studierende waren angesprochen. "Für sie hatten wir eine eigene Challenge vorbereitet: Sie sollten Mobilitätskonzepte für Großstädte entwickeln. Auf der Konferenz diskutierten die Simulationsexperten die Studierendenvorschläge, um auszuloten, wie diese mithilfe von Simulationen auf ihre Brauchbarkeit getestet werden können." Daneben waren die demografische Entwicklung im Land und die damit verbundenen Herausforderungen ein zentrales Thema.

Die Konferenz wurde ein großer Erfolg. Für Ahrweiler und ihr Team bedeutete das viel Arbeit. Doch es hat sich gelohnt, daran lässt die Professorin keine Zweifel aufkommen. "Wir hatten die bisher größte ESSA-Konferenz zu Gast", bemerkt sie stolz.