Ein Muslim, Türke und Mainzer im Deutschen Ethikrat

30. Oktober 2012

Die Ernennung hat Aufsehen erregt: Dr. Dr. Ilhan Ilkilic vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universitätsmedizin Mainz ist der erste Muslim im Deutschen Ethikrat. Er sieht sich in dieser Rolle als Vermittler zwischen den Kulturen und den wissenschaftlichen Disziplinen.

Seine Berufung im April 2012 ging durch die Medien, ob in der Türkei oder in Deutschland. "In der türkischen Tageszeitung Hürriyet hieß es, ich sei der erste Türke im Deutschen Ethikrat. Zaman, ein eher religiös ausgerichtetes Blatt, schrieb, ich sei der erste Muslim, und die Mainzer Allgemeine Zeitung schrieb über mich als ersten Mainzer im Ethikrat", erzählt Dr. Dr. Ilhan Ilkilic lächelnd.

Fest steht: Ilkilic ist seit 2005 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universitätsmedizin Mainz. Sein Habilitationsverfahren läuft gerade. "Es geht um ethische Aspekte bei medizinischen Entscheidungen am Lebensende im interkulturellen Kontext", erzählt er.

Mit oder ohne Sakko?

Seit Ilkilic Mitglied im Deutschen Ethikrat ist, strotzt sein Kalender vor Terminen. Doch heute sitzt er in seinem Büro und hat Zeit für ein Gespräch. "Soll ich mein Sakko anziehen?", fragt er, als der Fotograf seine Kamera auspackt. "Ich habe es extra mitgebracht. Zwei oder drei Mal war ich beim ZDF. Die waren dankbar, dass ich es dabeihatte." Schließlich ist er eine Instanz. Da gilt es, entsprechend aufzutreten.

26 Mitglieder zählt der Deutsche Ethikrat, elf wurden Anfang des Jahres 2012 von Bundestagspräsident Norbert Lammert neu berufen, darunter Ilkilic als erster Vertreter des muslimischen und Leo Latasch als erster Vertreter des jüdischen Glaubens. Bundesforschungsministerin Annette Schavan hofft, dass die beiden "den interdisziplinären und interkulturellen Dialog zu bioethischen Fragen bereichern".

"Dass ich erst jetzt berufen wurde, ist eine späte Entscheidung", sagt Ilkilic. "In den USA oder in Frankreich ist so etwas viel eher geschehen." Was ein wenig nach Überheblichkeit klingen könnte, ist eher der Ungeduld geschuldet. Dieser Mann will was bewegen, das wird schnell deutlich.

Die Frage der Beschneidung

Vor gut zwei Monaten hat er in Berlin im Deutschen Ethikrat einen Vortrag gehalten zur Beschneidung minderjähriger Jungen aus Sicht der Muslime. "In den Talkshows werden gern die Vertreter extremer Meinungen eingeladen", sagt er. "Das ist nicht hilfreich." Der Holocaust wird ins Spiel gebracht, fundamentalistische Positionen prallen unversöhnlich aufeinander.

"Mir geht es um die Versachlichung des Themas, um eine konstruktive Diskussion. Wir sollten nicht entweder oder sagen, sondern sowohl als auch." Also wägt er ab: Ja, es gehe um eine Körperverletzung – aber auch um einen Eingriff, den die Weltgesundheitsorganisation, die WHO, aus gesundheitlichen Gründen gutheißt, wenn er fachgerecht durchgeführt wird.

Im religiösen Alltag habe die Beschneidung einen hohen Stellenwert. Dagegen werde das Kindeswohl als Totschlagargument ins Feld geführt. Das lässt Ilkilic nicht gelten. Er stellt den Begriff auf eine breitere Basis. Schließlich gehe es nicht nur um körperliches, sondern auch um soziales Wohl. Und unbeschnitten sehe sich ein Junge in seiner Religionsgemeinschaft Ausgrenzungen und Diskriminierungen ausgesetzt.

In seinem Mainzer Büro fügt Ilkilic noch eine ironische Bemerkung an: "Vielleicht schadet es einem Kind viel mehr, wenn wir es einen Nachmittag lang RTL II aussetzen."

Sachlichkeit und Sachverstand

Natürlich beschäftigt sich Ilkilic nicht nur mit der Beschneidung. Als Mitglied des Ethikrats sieht er sich in einer "sachlichen, wissenschaftlichen Brückenposition". Das sagt er nicht einfach so daher, Ilkilics gesamter Werdegang zeigt in diese Richtung.

1967 im türkischen Kepsut geboren, studierte Ilkilic Humanmedizin in Istanbul. Dort machte er seinen ersten Doktor. "Mich interessierte aber auch die ethische Seite der Medizin." Also kam er Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland, lernte die Sprache und begann ein Studium der Philosophie, Islamwissenschaften und orientalischen Philologie. Unter anderem bekam er ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für das Graduiertenkolleg "Ethik in den Wissenschaften" an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Konkret ging es um das philosophische Dissertationsprojekt "Medizinethische Aspekte des muslimischen Krankheitsverständnisses in einer wertpluralen Gesellschaft".

Wenn Naturwissenschaft nicht weiter weiß

Die doppelte Qualifikation ist Ilkilic wichtig. Wieder ist es ein Brückenschlag: von der Türkei nach Deutschland, von der Medizin zur Philosophie. "Beim Thema Beschneidung ist das besonders interessant. Wir haben festgestellt: Das lässt sich naturwissenschaftlich nicht entscheiden, da müssen die Geisteswissenschaftler ran."

Immer wieder zeigt sich, dass es zu Reibungen führt, wenn islamisches Krankheits- und Gesundheitsverständnis auf deutsche Medizinpraxis trifft. In der Universitätsmedizin Mainz gibt es ein klinisches Ethikkomitee, das sich ganz praktisch damit beschäftigt. Ilkilic ist natürlich dabei ...

Ein Beispielfall: Ein Kind ist unheilbar erkrankt, das Behandlungsteam sieht keinen Sinn in weiterer Behandlung. Doch die Eltern, gläubige Muslime, bestehen darauf. "Etwas anderes können wir vor Gott nicht vertreten", so ihre Begründung.

Unsere Muslime, unsere Christen

"Diese Menschen brauchen jemanden, der ihnen kulturspezifisch erklärt, was geraten ist", so Ilkilic. Damit endet das Problem nicht. "Therapiebegrenzungen verstehen viele Leute mit Migrationshintergrund falsch. Sie fühlen sich als Menschen zweiter Klasse und haben den Verdacht, dass die Behandlung aus finanziellen Gründen abgebrochen wird. Das ist verständlich. Sie wurden ja schon bei der Arbeits- und bei der Wohnungssuche diskriminiert. Warum nicht auch hier?"

Ilkilics Blick weitet sich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland. "Wenn in Istanbul Christen oder Juden etwas geschieht, dann reden wir in Istanbul von 'unseren Juden' oder 'unseren Christen'. Das würde ich mir auch für Deutschland wünschen, dass wir von 'unseren Muslimen' reden."

Ein Umdenken ist nötig. "Wir müssen weg vom Begriff der Toleranz und hin zur Anerkennung. Toleranz geht immer von einer mächtigen und einer schwachen Partei aus. Die mächtige bestimmt die Grenzen der schwachen. Im Begriff der Anerkennung stehen sich gleichberechtigte Partner gegenüber."

Dienstags zum Griechen

Das Gespräch könnte noch lange Zeit so weitergehen. Ob Schwangerschaftsabbruch, Organspende oder Gesundheitsvorsorge, das alles treibt den Arzt und Philosophen um. Ob Leben in Deutschland, mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten für Migranten oder der Erfolg der eigenen Töchter – Ilkilic hat immer drei Blickwinkel: den des Mainzers, den des Türken und den des Muslim.

Plötzlich klopft es an der Tür, ein Kollege schaut kurz herein, die Tür schließt sich wieder. Im Hintergrund sind Stimmen zu hören. Ilkilic schaut auf die Uhr – Mittagszeit. "Wir gehen dienstags immer zum Griechen", sagt er erklärend. "Das ist schon Tradition. Möchten Sie nicht mitkommen?"