Mit Selbstbewusstsein gegen Essstörungen

2. April 2013

Seit vier Jahren existiert das Projekt "MaiStep". Entwickelt wurde das Mainzer Schultraining zur Essstörungsprävention an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Universitätsmedizin Mainz. Mitinitiator Arne Bürger erzählt von den Anfängen und Grundideen eines höchst erfolgreichen Projekts.

Auf dem Tisch liegt "Nichtlustig: Das dicke Cartoonbuch". Kugelrunde ulkige Gestalten tummeln sich auf dem tiefroten Umschlag. Das Wort "dicke" im Schriftzug ist so richtig dick gedruckt. Daneben liegt ein dünnes Heft. Ein dezent gewölbter Bauch in Schwarz-weiß schmückt das Cover, darauf das MaiStep-Logo in blassem Rot: die Silhouette eines schreitenden Fußes.

Das Buch nutzt der Diplompsychologe Arne Bürger in seinen Therapiestunden. "Manchmal ist den Jugendlichen einfach nicht nach Reden", meint er. "Dann ist es gut, was zum Blättern zu haben." Das Heft ist Teil eines außergewöhnlichen Projekts, des Mainzer Schultrainings zur Essstörungsprävention, kurz MaiStep, das inzwischen weite Kreise zieht.

Endstation Magersucht und Bulimie

22 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren leiden unter Essstörungssymptomen. Dem Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche Arne Bürger begegnen solche Fälle täglich bei seiner Arbeit an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Universitätsmedizin Mainz. "Essstörungen sind ein ernst zu nehmendes Problem, leider treten die Fälle immer früher auf", so Bürger. Magersucht und Bulimie, die Ess-Brech-Sucht, sind längst kein Randproblem mehr.

"Stellen Sie sich vor, Sie gehen nach einem stressigen Arbeitstag an den Kühlschrank und essen, was da ist. Sie brauchen das, um sich gut zu fühlen. Es ist Ihr Mittel, mit dem Stress klarzukommen.“ Sinnvoll wären Strategien zur Stressbeseitigung, doch die finden nicht statt. "Ihre Strategie scheint ja erst mal erfolgreich zu sein, denn Sie fühlen sich besser."

Tatsächlich ist das der noch harmlos wirkende Einstieg in eine Sucht, die tödlich enden kann. Essstörungen sind schwer zu behandeln und die körperlichen Schäden sind derart schwerwiegend, dass bis zu 16 Prozent der Betroffenen daran sterben.

Ein neues Präventionskonzept muss her

"Präventionsmaßnahmen wurden in der Vergangenheit sehr kritisch beurteilt ", erzählt Bürger. "Sie führten sogar zu einem Anstieg von Fällen." Manch einer stieß durch Aufklärungskampagnen überhaupt erst auf das Phänomen Essstörung – mit fatalen Folgen. Eine neue Strategie musste her. Bürger, seine Kolleginnen Ute Spranger, Claudia Wacharz und die beiden Studierenden Florian Hammerle und Katrin Gellner machten sich im Jahr 2009 an die Arbeit.

"Wir haben allein ein Dreivierteljahr für die Konzeption gebraucht", erinnert sich Bürger. Die fünf kooperierten dabei mit dem rheinland-pfälzischen Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie und dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur sowie FemMa e.V., dem Verein zur Förderung feministischer Mädchenarbeit. "Das war ein reger Austausch und ungeheuer viel Arbeit." Für die ersten drei Jahre standen 210.000 Euro zur Verfügung, rund 2.000 rheinland-pfälzische Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen 7 und 8 nahmen am neuen MaiStep-Präventionsprojekt teil, dessen Leitung Prof. Dr. Michael Huss, Direktor der Mainzer Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, übernahm.

"Die meisten der Schülerinnen und Schüler hatten keine Erfahrungen mit Essstörungen. Warum sollte ich ihnen also etwas über eine Krankheit erzählen, die sie nicht haben?", skizziert Bürger einen grundlegenden Gedankengang hinter MaiStep.

Der ganz andere Schulunterricht

Bürger und seine Mitstreiter konzipierten fünf Doppelstunden. "Ihr werdet schnell merken, dass diese Projektstunden ganz anders sein werden als der Unterricht, den ihr sonst gemeinsam in der Klasse habt", steht in dem Begleitheft mit dem Bauch auf dem Cover. "Vieles wird sehr spielerisch sein und häufig werden Medien eingesetzt."

Im Kern geht es um das Selbstwertgefühl der Jugendlichen, um ihr Selbstbewusstsein. Der eigene Körper, das Gewicht, die Figur, das Aussehen sind in ihrer Lebensphase sehr stark ans Selbstwertgefühl gekoppelt. Dazu prasseln aus den Medien schier unerfüllbare Ideale auf die Jugendlichen ein. Probleme gibt es reichlich in ihrem Alltag und es ist schwer, die Kontrolle darüber zu behalten. "Das Gefühl der Kontrolle über das eigene Essen tut da unter Umständen gut", sagt Bürger. Es tritt an die Stelle der Problemlösung.

Es gibt keinen Frontalunterricht im Mainzer Schultraining zur Essstörungsprävention. Gleich zu Beginn geht es darum, drei soziale Grundbausteine spielerisch zu erfahren: Solidarität, Achtsamkeit, Kompetenz.

Die wa(h)re Schönheit im Blick

"Beim Eisschollenspiel thematisieren wir zum Beispiel den Zusammenhalt." Die Schüler stellen sich auf Stühle, immer wieder wird einer weggenommen, bis die Jugendlichen auf engstem Raum die Balance halten. "Das klappt nur, wenn sie sich anfassen. Wir hatten eine Klasse, da wollten die Schüler das nicht. Sie erfuhren aber, dass es nur dann funktioniert."

In Sitzung zwei geht es um "Wa(h)re Schönheit". Aus einer Bildergalerie suchen die Jugendlichen den schönsten Mann, die schönste Frau aus. "Schon da merken sie, dass eine gewisse Komplexität herrscht." Wer findet wen schön? Welche Rolle spielt es, wenn jemand sympathisch aussieht?

Im nächsten Schritt sehen die Schülerinnen und Schüler einen Film, in dem ein Junge und ein Mädchen wie Models geschminkt und digital überarbeitet werden. "Die meisten wissen, was da passiert. Sie wissen auch, was man mit Bildbearbeitungsprogrammen wie Photoshop alles machen kann." Nun geht es um Fragen wie: Was ist dir wichtig an deinem Freund, deiner Freundin?

Der Weg zu den Gefühlen

Später wird es im Unterricht noch um Selbstachtung gehen, um die Achtung anderer, um den Umgang mit Gefühlen. "Wir haben ein Spiel entwickelt, eine Mischung aus Pantomime und dem weithin bekannten Spiel 'Tabu'." Die Jugendlichen sollen Gefühle identifizieren: Trauer, Wut und Schuld etwa. "Sie summieren das oft unter der Aussage 'Ich fühle mich scheiße'. Das hilft aber wenig bei der Lösung der Probleme, die dahinterstecken. Ich muss erkennen, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, um damit umgehen zu können."

Mit dem eigenen Körper umgehen, auf dessen Signale achten, miteinander umgehen, achtsam, selbstbewusst und rücksichtsvoll – das sind die Lernziele. Das Projekt MaiStep hat bereits große Erfolge erzielt. Eine umfangreiche wissenschaftliche Überprüfung erbrachte, dass unter Jugendlichen, die das Programm durchliefen, deutlich weniger essgestörte Verhaltens- und Denkweisen auftraten.

MaiStep schreitet weiter fort

Im Jahr 2011 honorierte die Kaufmännische Krankenkasse die Arbeit von MaiStep mit dem Innovationspreis der KKH-Allianz. "Durch unsere Arbeit sparen die Krankenkassen tatsächlich viel Geld", sagt Bürger. Schwer therapierbare Essstörungen kommen eben nicht nur den Betroffenen teuer zu stehen. Dank weiterer Unterstützer wird MaiStep immer weiter ausgebaut.

"Wir erreichen derzeit rund 40 Schulen", so Bürger. "Es gibt auch erste Überlegungen für ein Internet-basiertes Frühinterventionsprogramm." Das bedeutet natürlich wieder viel Arbeit. Bei Arne Bürger steht jetzt erst einmal der nächste Therapie-Termin an. "Nichtlustig: Das dicke Cartoonbuch" liegt zum Durchblättern bereit.