"Dieses Kind hätte nicht sterben müssen"

27. März 2013

Vor 15 Jahren machte sich eine junge Medizinerin Gedanken darüber, wie sie missbrauchten und misshandelten Kindern besser helfen könnte. Mittlerweile ist Dr. Bianca Navarro-Crummenauer verantwortlich für die Forensische Ambulanz für Opfer häuslicher Gewalt am Institut für Rechtsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Rund 500 Fälle jährlich halten sie in Atem.

Das kleine Mädchen schaut groß in die Welt, als es den Untersuchungsraum verlässt. Sein blaues Auge ist nicht zu übersehen. Kaum ist es um die Ecke gebogen, kommt auch schon Dr. Bianca Navarro-Crummenauer aus dem Zimmer. "Entschuldigen Sie bitte die Verspätung", so die Rechtsmedizinerin. "Ein Termin ist dazwischengekommen."

Im Grunde kommt immer ein Termin dazwischen in der Forensischen Ambulanz für Opfer häuslicher Gewalt am Institut für Rechtsmedizin der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Rund 500 Kinder im Jahr untersucht und begutachtet Navarro-Crummenauer auf Misshandlung oder Missbrauch. Der Andrang ist groß, denn jeder kann sich an die Ambulanz wenden, ob Jugendamt, Kinderarzt oder Privatperson, und die Untersuchung ist kostenlos. All das ist der Medizinerin wichtig.

Navarro-Crummenauer setzt sich an einen Tisch im Untersuchungsraum. Vor ihr liegt ihr Handy, das hat sie immer im Blick. An einer Pinnwand hängen bunte Kinderbilder, hinter ihr steht eine Liege mit technischem Gerät, von den Vorhängen im Hintergrund grinst ein lustiger Pirat.

Ehrenamtlich gegen Missbrauch

Seit dem Jahr 2010 gibt es diesen Raum mit angrenzendem Wartezimmer. "Vorher haben die Kinder im Gang vor dem Fahrstuhl gewartet." Mit Spenden konnte die Forensikerin hier alles kindgerecht umgestalten. Die Stiftung "Ein Herz für Kinder" gab 45.000 Euro dazu, dennoch war viel Eigeninitiative gefragt. Navarro-Crummenauer, damals gerade zum zweiten Mal Mutter geworden, legte selbst Hand an.

Seit 2007 gibt es die Forensische Ambulanz in Mainz. Das Innenministerium unterstützt die Einrichtung, sodass die Untersuchungen für die Betroffenen kostenfrei durchgeführt werden können. "Das Geld ist für Fahrtkosten, andere Aufwendungen und die erforderlichen Sachmittel gedacht." Navarro-Crummenauer arbeitet dabei neben ihrem Job im Institut für Rechtsmedizin ohne Entgelt für ihre Dienstbereitschaft oder Nacht- und Wochenendeinsätze.

Der Leiter der Rechtsmedizin, Prof. Dr. Dr. Reinhard Urban, entschloss sich im Jahr 2002, mit seinem Team unentgeltlich Missbrauchs- und Misshandlungsopfer zu untersuchen. "Das war am Anfang etwas ganz Besonderes und die Ambulanz war auch noch nicht institutionalisiert. Inzwischen haben es viele nachgemacht." Was die Zahl der Kinderuntersuchungen angeht, steht die Mainzer Rechtsmedizin aber immer noch einzig da – und das ist vor allem der Verdienst von Dr. Bianca Navarro-Crummenauer.

Wenn ein Kind stirbt

Wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, kommen immer konkrete Fälle zur Sprache. Da ist dieser Junge, der jetzt mit Hirnblutungen in einer Klinik liegt. "Er wurde zuvor schon einmal eingeliefert, mit Verbrühungen." Eine Misshandlung? Die behandelnden Ärzte waren sich seinerzeit unsicher. Das Kind kam wieder nach Hause. Nun ringt es ums Überleben.

Solche Fälle machen Navarro-Crummenauer besorgt. Und wenn es um das Leben von Kindern geht, zeigt sie sich kompromisslos. In einem ähnlich gelegenen Fall blaffte sie einen Arzt an, der ein schwer misshandeltes Kind trotz ihrer Bedenken in die Familie zurückgeben wollte: "Dann machen Sie doch, was Sie für richtig halten, aber wenn das Kind stirbt, müssen Sie die Konsequenzen tragen." Das Kind starb.

2002 fiel Navarro-Crummenauer auf, dass eigentlich nur die Kriminalpolizei und die Staatsanwaltschaft mit Missbrauchs- oder Misshandlungsdelikten an die Rechtsmedizin herantraten. Das war ihr zu wenig. "Irgendwann habe ich mich gefragt: Wer ist in Rheinland-Pfalz zuständig, wo kennt man sich aus mit solchen Fällen? Wer sieht solche Kinder?"

Die Jugendämter. "Ich schrieb sie an: 'Wir sind spezialisiert auf Gewaltopfer, speziell Kinder.'" Sie bot kostenlose zweistündige Vorträge an: "Welche Verletzungen sind typisch bei Misshandlungen und welche Verhaltensmuster bei sexuellem Missbrauch?"

Anrufe rund um die Uhr

"Ich hatte am Anfang keinen blassen Schimmer, was ich anrichtete. Ich wollte einfach möglichst alle erreichen und habe Hunderte von Visitenkarten verteilt mit dem Angebot, dass man mich rund um die Uhr anrufen kann." So kam es dann. "Mein Telefon stand nicht mehr still. Die Zahl der Untersuchungen ging explosionsartig in die Höhe."

Natürlich stellte sich die Frage der Finanzierung. Navarro-Crummenauer hätte sich ein Engagement der Krankenkassen gewünscht, doch die winkten ab: "Rechtsmedizin sei nicht vorgesehen, hieß es. Rechtsmediziner untersuchen doch nur Tote."

Das Echo auf das Engagement der Medizinerin war auch sonst nicht immer einmütig. Mit vielen Jugendämtern und Kinderkliniken arbeitet sie heute gut zusammen, aber andere sperren sich. "Und niedergelassene Kinderärzte wenden sich leider nur selten an uns", so Navarro-Crummenauer.

Manchen gilt sie als unbequem – etwa den Medizinern, die anriefen, um einen Fall zu schildern. "Es ging um ein fünf Monate altes Kind mit Beinbruch. Die Eltern seien privat versichert, die Familie mit Professor Soundso befreundet, erzählten sie mir. Die Eltern gingen sehr liebevoll mit ihrem Kind um."

Schwierige Gesetzeslage

Navarro-Crummenauer schüttelt den Kopf. "Warum erzählen die mir das alles, was wollen die von mir hören? Eltern, die ihre Kinder misshandeln, gehen oft liebevoll mit ihnen um. Sie haben ein schlechtes Gewissen. Und was interessiert mich, wie die versichert sind? Wir müssen nur im Kopf haben: Das Kind hat die und die Verletzung. Ist die plausibel erklärt worden? Ja oder nein?"

Kinder werden verbrüht und geschlagen, Zigaretten werden auf ihren Körpern ausgedrückt. Navarro-Crummenauer berichtet von Eltern, die ihr Kind mit dem Gürtel verprügelten. "Sie haben Chili-Pulver auf die blutenden Verletzungen gerieben, damit es brennt." Und auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten viel geändert hat, wenn Ärzte, Ämter, Polizei und Öffentlichkeit aufmerksamer geworden sind: Der Rechtsmedizinerin reicht das nicht. "Es gibt Fälle, da sage ich: Dieses Kind hätte nicht sterben müssen, wenn die Verantwortlichen richtig reagiert hätten."

Auch die Gesetzeslage kritisiert sie. "Das Kinderschutzgesetz ist gut, aber bei Weitem nicht optimal. Da steht drin: 'Wenn ein Arzt gewichtige Anhaltspunkte hat für eine Kindeswohlgefährdung, dann ist er befugt, das Jugendamt zu verständigen.'" Navarro-Crummenauer holt tief Luft: "Befugt? Das muss verpflichtend sein."

Ein Draht zu Kindern

So unbequem die Forensikerin in der Welt der Erwachsenen sein kann, zu Kindern hat sie einen Draht. "Das ist unbedingt notwendig für diese Aufgabe." Teddybären stehen bereit und es gibt eine Schublade mit kleinen süßen Bestechungen. Die technischen Geräte wirken möglichst unauffällig.

Navarro-Crummenauer deutet auf ein Kolposkop, ein wichtiges Instrument, wenn es um die Untersuchung von Missbrauchsopfern geht. "Ich sage den Mädchen: 'Ich habe hier ein ganz tolles Fernrohr, damit kann ich alles ganz groß sehen.'" Das Kolposkop bleibt dabei auf Abstand – und es macht Fotos, ohne dass die kleinen Patienten es merken. "Missbrauch ist oft damit verbunden, dass die Kinder von den Tätern fotografiert werden", erklärt die Medizinerin. Daran soll sie die Untersuchung nicht erinnern.

Schon mehrmals hat das Handy geklingelt während des Gesprächs. Navarro-Crummenauer ist eben immer erreichbar. "Es ist relativ ruhig, ich habe heute etwas mehr Zeit", meint sie zum Abschied. Vielleicht bleibt es ja noch eine Weile so, eine Verschnaufpause wäre ihr zu gönnen.