Frische Forschung und viele Gespräche

25. März 2013

Die Bandbreite der Themen war groß bei den 41. Joint Sessions of Workshops am Institut für Politikwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Ob europäische Minderheitenpolitik, Protestbewegungen wie der Arabische Frühling oder Klimawandel – insgesamt kamen 33 Themen zur Sprache. Andreas Jungherr und Pascal Jürgens etwa diskutierten über den Microblogging-Dienst Twitter.

Es gibt Konferenzen, bei denen feierliche Reden im Vordergrund stehen, prächtige Empfänge und prominente Persönlichkeiten. Und es gibt die Joint Sessions of Workshops des European Consortium for Political Research (ECPR). Zur offiziellen Eröffnung dieser etwas anderen Konferenz in der Alten Mensa der JGU fanden sich die rund 650 Teilnehmer aus aller Welt ungewöhnlich zögerlich ein und die Ansprachen fielen auffällig knapp aus. Das alles schien nebensächlich.

So räumte denn auch Prof. Dr. Ulrich Förstermann, Vizepräsident für Forschung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, ein: "Begrüßungen wie diese hier wirken eher überflüssig und langweilig. Ich fasse mich also kurz." Er hob nur schnell noch hervor, dass viele junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Mainz gekommen seien, um an diesem Treffen teilzunehmen, bei dem es vor allem um "intensive Dialoge" gehe.

Ungewöhnliches Veranstaltungsformat

Seit 1973 veranstaltet die Europäische Fachgesellschaft für Politikwissenschaft ihre Joint Sessions of Workshops an europäischen Hochschulen. Diesmal war das Institut für Politikwissenschaft der JGU Gastgeber und Mitorganisator. In 33 Workshops wurde debattiert über Klimawandel und Geo-Engineering, über die europäische Minderheitenpolitik und den Arabischen Frühling – und über "Collective Action Online", über Netzwerke im Internet. Wie spiegeln sie gesellschaftliche und politische Prozesse? Nehmen sie vielleicht sogar Einfluss darauf?

"Unser Format ist ungewöhnlich", so Prof. Dr. Kai Arzheimer vom Institut für Politikwissenschaft. "An sechs Tagen diskutieren wir in kleinen Gruppen von 8 bis 20 Leuten. Da kann man wirklich in die Tiefe gehen." Anmeldungen gab es reichlich: "Wir hätten zweieinhalbmal so viele Teilnehmer haben können."

Andreas Jungherr und Pascal Jürgens stellten ihre Thesen im Workshop 32 unter der Überschrift "Collective Action Online" vor. Die beiden Nachwuchswissenschaftler haben untersucht, wie sich die Protestbewegung um Stuttgart 21 im Microblogging-Dienst Twitter niedergeschlagen hat. Social Networks wie Facebook oder Twitter gehören zu den Forschungsschwerpunkten der beiden. Jungherr hat in Mainz studiert und ist jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Jürgens arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Twitter und Stuttgart 21

"Through a glass, darkly: what digital data traces tell about collective action" nennen sie ihren Beitrag zum Workshop. "Wir haben uns 80.000 der meistgefolgten Twitter-Nutzer angeschaut", erklärt Jungherr. "12.000 davon haben etwas über Stuttgart 21 geschrieben."

Die beiden schauten sich an, wie sich der Verlauf der Proteste gegen den Bau des Stuttgarter Bahnhofs vom 25. Mai bis zum 14. November 2010 in Twitter spiegelte. Wurden besondere Ereignisse von besonders reger Twitter-Aktivität begleitet?

Die Proteste erreichten in der Nacht vom 30. September auf den 1.Oktober 2010 einen Höhepunkt. Bei einem massiven Polizeieinsatz wurden rund 400 Menschen verletzt. Die Zahl der Nachrichten über Twitter stieg schlagartig an ...

Jungherr und Jürgens unterscheiden zwischen taktischer und symbolischer Interaktion per Twitter. Bei der taktischen Interaktion wird der Blogging-Dienst genutzt, um etwa Aktionen zu koordinieren oder wichtige Informationen weiterzugeben. Hier melden sich vorwiegend diejenigen zu Wort, die sich stärker engagieren. Die symbolische Interaktion stellt sich dagegen diffuser dar. Sympathiebekundungen oder Kommentare verschiedenster Art können darunter sein.

Bahnhof des himmlischen Friedens

"Vor dem 30. September gab es mehr taktische Interaktion", so Jungherr. "Das änderte sich mit dem Polizeieinsatz." – "Jetzt gab es vermehrt Reaktionen von weniger direkt Betroffenen", ergänzt Jürgens. "Das nahm auch schon teils satirischen Charakter an." So machte das Wort vom "Bahnhof des himmlischen Friedens" die Runde.

Natürlich schauten sich die beiden nicht nur die Reaktion auf den Großeinsatz an. Sie stellten auch fest, dass besonders bildmächtige Ereignisse oder emotional bewegende Vorgänge zu hoher Twitter-Aktivität führten. "Das war so, als einem Polizisten vorgeworfen wurde, er hätte eine Frau zusammengeschlagen", sagt Jungherr. "Was tatsächlich passiert ist, wird gar nicht so sehr hinterfragt." Die Attraktivität der Meldung zählt. "Sie wird von der Masse belohnt."

Wenn es um die Rolle der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie geht, stehen vor allem zwei Ansätze im Raum: Tragen Twitter und Co. dazu bei, Aktivisten und Initiativen auf Kosten der traditionellen Eliten zu stärken? Führt das Netz zu mehr Gleichheit? Oder fehlt den Online-Äußerungen die Substanz, bleiben sie im Kern wirkungslos?

"Twitter-Nutzer haben unterschiedliche Ziele", stellt Jungherr klar. Es gebe jene, die sich informieren wollen, die sich übers Internet koordinieren. "Und dann gibt es die, die einfach so reinstolpern, durch sie ändert sich zum Beispiel nach dem 30. September der Ton im Diskurs über Stuttgart 21." Das Medium sei eben sehr heterogen.

Riesige Datenquelle für die Forschung

Folgerichtig sind Jürgens und Jungherr zurückhaltend, wenn es um einfache Antworten geht. Die beiden möchten vielmehr eine Methode anbieten, mit der sich untersuchen lässt, wie sich gesellschaftliche Ereignisse im Netz niederschlagen. "Für die Wissenschaft ist das eine riesige Datenquelle", sagt Jürgens.

Aber die Datenflut erfordert neue Herangehensweisen. Wer mit voreiligen Prämissen an die Untersuchung geht, wird immer irgendwo Belege für seine Annahmen finden, dafür ist einfach genug Masse vorhanden. Darin sehen Jürgens und Jungherr die Gefahr, die ihrer Arbeit den Titel gab: Forschern könne es passieren, dass sie beim Blick auf die Online-Spiegelungen von Offline-Ereignissen nur ihr eigenes Bild gespiegelt sähen, "... their own reflection through a glass, darkly".

"Das Schöne bei uns Online-Forschern ist, dass sich jeder von uns in der eigenen Institution rechtfertigen muss, warum er sich mit so einer komischen neuen Sache wie Twitter beschäftigt", sagt Jungherr. "Die Wahlforschung zum Beispiel ist ein Feld mit längst etablierten Methoden. Wir aber wissen noch gar nicht, welche Methode wirklich funktioniert. Bei uns herrscht noch eine gewisse Frische im Vorgehen, unser Forschungsfeld ist noch sehr durch Neugier geprägt."

Angesichts dieser Neugier waren die 41. Joint Sessions of Workshops genau der richtige Ort für die beiden, um ihre Forschung vorzustellen und zu diskutieren. "Wir konnten uns wirklich gut kennenlernen und austauschen", so Jürgens. Da tritt dann so eine Eröffnungsveranstaltung schon mal in den Hintergrund.