"Die Sportler sind in einer schwierigen Position"

17. Februar 2014

Der emeritierte Mainzer Sportwissenschaftler und Olympiaforscher Prof. Dr. Norbert Müller bereist seit 1972 die Olympischen Spiele und war seit 1994 auch bei den Olympischen Winterspielen stets zu Forschungszwecken dabei. Die Wettkämpfe in Sotschi verfolgt er von Deutschland aus und spricht in einem Interview mit FAZ-Mitarbeiter Stefan Reccius über den aktuellen Austragungsort, das IOC und die wachsende Kritik am olympischen Gigantismus.

Was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn, wenn Sie an Olympia in Sotschi denken?

Dass Sotschi ein wunderbarer Badeort ist, das Saint-Tropez Russlands. Ich frage mich, was so eine Stadt mit Winterspielen zu tun hat.

Darum einmal grundsätzlich: Olympische Winterspiele in einer subtropischen Küstenregion – ist das nicht irrational und unlogisch?

Aus meiner Sicht völlig irrational, selbst wenn man in der Nähe Skigebiete errichtet hat. Winterspiele sind nach der IOC-Definition "Spiele auf Eis und Schnee", das kann Sotschi nicht bieten. Dasselbe lässt sich aber in Bezug auf die letzten Winterspiele in Vancouver diskutieren: Die jungen Leute sind teilweise mit nacktem Oberkörper bis nachts durch die Straßen gezogen, haben getanzt und Musik gemacht. Das kannte ich zuvor nur von Sommerspielen.

Aber Sotschi ist doch eine andere Dimension als Vancouver?

Natürlich, jeder Olympiaort hat seine Eigenheiten. Die Schnellbahnverbindung von Sotschi zu dem neu erschlossenen Skigebiet im Kaukasus dauert nur eine Stunde, sodass man nicht wehklagen kann, Schnee und Eis seien nicht erreichbar. Zu welchem Preis das total neue Skigebiet entstanden ist, ist eine andere Frage. Von Vancouver nach Whistler, wo 2010 die Skiwettbewerbe stattfanden, dauerte es zweieinhalb Stunden. Es ist ein generelles Problem, wie und wo Winterspiele überhaupt noch stattfinden können.

Am Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und dem Ausrichter entzündete sich im Vorfeld viel Kritik. Mehrere Staats- und Regierungschefs werden Sotschi demonstrativ fernbleiben. Wie bewerten Sie diesen Schritt?

Früher sind ausländische Staatsoberhäupter, auch Regierungschefs, nie zu Olympischen Spielen gereist. Natürlich werten solche Besuche heute den "Megaevent Olympia" noch weiter auf. Ich bewerte das Fernbleiben unseres Bundespräsidenten als einen Fingerzeig von freiheitlich-demokratischer Überzeugung. Dennoch müssen Politiker, aber auch die Sportler und die Besucher Olympischer Spiele nach Wegen suchen, friedliches Miteinander und zwischenmenschliche Begegnungen auch und gerade im Sinne der olympischen Idee zu verwirklichen.

Reisen Sie nach Sotschi?

Nein, gern möchte ich die Winterspiele von Sotschi in der Fernsehwirklichkeit miterleben, das habe ich seit zwanzig Jahren nicht mehr. Wenn Sie meine politischen Vorbehalte ansprechen möchten, so hatte ich bereits 1988 ein großes Problem, mit Studierenden nach Seoul zu fahren: Es war der Augenblick eines demokratischen Aufbruchs in Südkorea, der auch hätte schiefgehen können. In Russland erwarte ich keine vergleichbaren Veränderungen.

Auch deutsche Olympier haben sich zu Wort gemeldet, die schärfste Kritik kommt von Skifahrer Felix Neureuther. Stecken die Sportler in einem moralischen Dilemma?

Die Sportler sind in einer schwierigen Position und ich bewundere Felix Neureuther. Er ist offensichtlich so emanzipiert, dass er sich sehr kritisch zu den Menschenrechten in Russland geäußert hat. Er sieht sich offenbar nicht in einem Dilemma, als Führungsfigur der deutschen Alpinen seinen Mund aufzumachen. Ein Problem könnte eintreten, wenn er sich im Olympischen Dorf oder an den Wettkampfstätten erneut äußern würde, doch in Sotschi konzentrieren sich die Sportler logischerweise auf ihren Wettkampf. Ich war überrascht, wie offen der neue DOSB-Präsident Alfons Hörmann mit dieser Frage vor seinem Abflug umgegangen ist und die Eigenverantwortung der Athleten deutlich gemacht hat. Ich habe die gesamte Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit vom Demokratieverständnis her als sehr engagiert empfunden.

Würde das IOC seine eigene Charta ernst nehmen, hätte es die Winterspiele nicht an Sotschi vergeben dürfen. Stimmen Sie dieser These zu?

Dieser These stimme ich so nicht zu, weil 2007 bei der Präsentation der Bewerbung die 120 IOC-Mitglieder genau wussten, worauf sie sich einlassen. Das war 2009 bei der Vergabe der Spiele 2016 an Rio genauso. Natürlich versucht jeder Bewerber, bei seiner Vorstellung die IOC-Mitglieder zu beeindrucken. Was letztlich daraus gemacht wird, zum Beispiel in der Umweltfrage, haben die IOC-Mitglieder nicht mehr unter Kontrolle. Wie soll das auch gehen? Wenn der Ausrichtervertrag unterschrieben ist, kann das IOC, eine Sportbehörde mit 300 Mitarbeitern, gegenüber einer Weltmacht wie Russland nur noch beratend Einfluss nehmen. Damit zu drohen, die Spiele abzuziehen, ist völlig illusorisch. Das IOC fühlte sich in gewisser Weise auch verpflichtet, einer so starken Wintersportnation wie Russland zum ersten Mal die Winterspiele zu geben. Die Situation war bei Peking 2008 genauso.

Was halten Sie von der Aussage des CDU-Politikers Heiner Geißler in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, das IOC trete "wegen des Geldes die eigene Charta mit Füßen"?

Das ist eine viel zu pauschale Interpretation, da das meiste Geld direkt an die olympischen Sportverbände für deren Ausbau und für Entwicklungsmaßnahmen des Sports direkt ausgegeben wird. Das IOC selbst hat einen Jahreshaushalt vergleichbar mit der Stadt Mainz, jedoch ausgeglichen und mit einer gesicherten Rücklage. Die Messlatte der IOC-Satzung bezüglich der dort formulierten olympischen Werte ist sehr hoch gelegt, einige sind bewusst visionär wie der Beitrag der Olympischen Bewegung zum Weltfrieden oder auch das Menschenrecht auf Sport. Auf der anderen Seite lebt die olympische Bewegung gegenüber der Öffentlichkeit, auch gegenüber ihren Sponsoren, von dieser einzigartigen ideellen Herausforderung. Diesen pädagogischen Auftrag formulierte der IOC-Gründer Pierre de Coubertin bereits vor 100 Jahren. Coubertin machte damit Olympia zum einen angreifbar, zum anderen aber auch zu etwas Besonderem. Diese besonderen Werte, die die Olympischen Spiele im Sinne ihres humanen Auftrags über den Sport erreichen wollen, sind für mich in Frage gestellt.

Der Gigantismus ist ein zentraler Kritikpunkt, fast 50 Milliarden Dollar sollen die Spiele in Sotschi insgesamt kosten. War nicht Coubertin ein scharfer Kritiker des Kommerzes?

Natürlich, doch konnte er vor 100 Jahren eine solche Kommerzialisierung niemals voraussehen. Er starb 1937 völlig verarmt, ohne zu ahnen, dass die Vermarktung seiner Olympischen Ringe eines Tages Milliarden einbringen würde. Es ist völlig verrückt, was in Sotschi mit den Kosten und dem Aufwand für eine komplett neue Infrastruktur eines Wintersportzentrums ausgegeben wird. Dabei ist die Frage der Nachnutzung noch gar nicht beantwortet. Dadurch werden die Kosten der Winterspiele in eine Dimension nahe der Sommerspiele katapultiert. Die Ausrichter, in diesem Fall Russland, denken fast ausschließlich an ihre Selbstdarstellung. Das gilt genauso für die Fußball-WM in Kürze in Brasilien. Aufgrund der Berichte in den westlichen Medien wurde sehr deutlich, wie umfangreich Geländeenteignungen, Umsiedlungen und Umweltzerstörungen stattgefunden haben; Korruption und ungenügende Bezahlung der Wanderarbeiter auf den Baustellen kamen hinzu.

Versündigt sich das IOC an Bevölkerung und Natur in Sotschi?

Das IOC übergibt die Spiele an ein Ausrichterland. In den Bewerbungsunterlagen wird die Umweltbelastung kleingerechnet. Auch ist in einem so großen Flächenland wie Russland die Sensibilität für Umweltschutz weit geringer als bei uns.

Aber wie die Russen Sportstätten und Infrastruktur entwickeln wollten, war ja in der Bewerbung schon klar.

Die wahre Umweltbelastung wurde in ihrer ganzen Dimension erst im Verlauf der Bauarbeiten deutlich und zu Recht von der freien Presse und von Umweltschutzorganisationen wie Amnesty International kritisiert. Doch wie viel Einfluss haben solche Organisationen auf eine autoritäre Staatsführung wie in Russland? Das IOC kann hier nur als Mahner auftreten. Und wenn eine Entscheidung, dass eine Weltmacht wie Russland die Spiele zum zweiten Mal nach 1980 unter etwas demokratischeren Verhältnissen bekommen soll, einmal gefallen ist, dann wird alles andere diesem Votum untergeordnet.

Sollte nicht die Nachhaltigkeit der Spiele viel stärkeres Gewicht erhalten?

Das ist eine berechtigte Forderung, aber dann müsste man das Programm radikal verändern und Sportarten herausnehmen, die einen riesigen Aufwand erfordern wie zum Beispiel Rodeln und Bobfahren. Es wäre die große Chance einer möglichen Olympiabewerbung von München gewesen, dass es diese Anlagen in Berchtesgaden schon gibt.

Das befürchtete Szenario ist: Von all den Milliarden bleibt eine glänzende olympische Kulisse zurück, die weitgehend brachliegen wird.

Die Bobbahn wird nicht mehr gebraucht, die Biathlonstrecke dagegen lässt sich leicht zurückbauen, im Eislaufoval kann man allemal mit Schulklassen weitermachen oder ein Trainingszentrum einrichten, wobei die Russen in Almaty in 3.000 Meter Höhe seit Jahrzehnten eine ideale Einrichtung haben. Die Kritik richtet sich im Wesentlichen ja auch dagegen, dass ein Naturschutzgebiet für die olympischen Abfahrtsstrecken verschandelt wurde. Hier soll mithilfe der Schneekanonen ein attraktives neues Skigebiet entstehen. Bei Olympischen Sommerspielen ist die Frage der Nachhaltigkeit noch viel größer, da für 28 Sportarten Wettkampfstätten vorgehalten werden, von denen zahlreiche im jeweiligen Ausrichterland gar nicht mehr gebraucht werden.

Steckt in den Spielen auch eine Chance, Politik und Gesellschaft Russlands zu verändern?

Ich sehe nur eine kleine Chance. Olympische Spiele bringen immer das Ausrichterland in den Fokus der Weltöffentlichkeit, sonst hätten wir in vielen westlichen Ländern gar nicht die derzeitige Diskussion. Die Winterspiele werden Präsident Putin jedoch aus innenpolitischer Sicht stärken. Was ihm noch fehlt, sind sportliche Erfolge. Dass in den letzten Jahren die russischen Wintersportler nicht sehr erfolgreich waren, ist sein größtes Problem, insbesondere auch weil unter anderem bei Biathleten und Skilangläufern kurz vor Sotschi Dopingfälle aufgedeckt wurden. Wenn die russische Mannschaft keine vorzeigbaren Erfolge hat, können die Spiele in der Wahrnehmung der russischen Öffentlichkeit propagandistisch nicht die beabsichtigte Wirkung erzielen. Ich hoffe, dass keine Manipulationen vorkommen, aber in einer erfolgsbesessenen Gesellschaft muss man auch diese Gefahr erkennen.

Sie befürchten eine sportliche Einflussnahme während der Spiele?

Medaillen um jeden Preis, würde ich das nennen. Ich erwarte auch ein nationalistisches Publikum, was aber auch in anderen Ländern vorkommt. Weniger in Deutschland: Die in Scharen anreisenden Biathlonfans zum Beispiel veranstalten geradezu eine Volksfeststimmung.

Emotionen und einen gewissen Heimvorteil des Ausrichters muss man ja nicht schlecht finden.

Die Begeisterung gehört sicher zu Olympia dazu. Warten wir mal ab, wie sich das Publikum insgesamt verhält. Solange die Gegner in der Loipe nicht niedergebrüllt werden, ist es ja gut.

Mit Gian-Franco Kasper hat wenige Wochen vor Beginn der Spiele ein bedeutendes IOC-Mitglied seine Stimme gegen Gigantismus und Korruption erhoben.

Als Präsident des Internationalen Skiverbands hat er eine gewichtige Stimme und ist direkt betroffen. Außerdem sieht er Möglichkeiten, wie man gerade im Skibereich auf vorhandene Infrastrukturen zurückgreifen kann. Er erkennt, dass im Kaukasus völlig übertrieben wurde. Kasper stammt aus Sankt Moritz, dessen geplante Olympiabewerbung zusammen mit Davos in einer Volksabstimmung abgelehnt wurde, obwohl die Pläne für Olympische Winterspiele in meinen Augen fantastisch waren und völlige Rücksicht auf den Schutz der Alpenregion genommen hätten. Kasper sieht Möglichkeiten, wie man Winterspiele umweltverträglich gestalten könnte, denkt aber bereits weit über 2014 hinaus. Für Sotschi kam seine Kritik zu spät. Schon im Juni 2013 hat das Schweizer Fernsehen einen ersten, sehr kritischen Filmbericht gebracht. Er hätte sich früher äußern können. Aber die Diskussion muss generell geführt werden, wie Olympische Winterspiele in Zukunft noch einigermaßen naturverträglich in einer Winterlandschaft und nicht in Großstädten durchgeführt werden können.

Auch die Bürger in München haben sich im November gegen eine Bewerbung für die Winterspiele 2022 entschieden. Interpretieren Sie das als Misstrauensvotum gegen das IOC?

In meinen Augen nein. Es mag etwas mitgeschwungen haben, dass hier eine große Geldmaschine angeworfen wird. Ich glaube, der Gedanke der Olympiakritiker war eher: Wir brauchen keine Spiele, es verändert unsere schöne Gemeinde und Region. Und die Vorbehalte der gerade älteren Menschen in den Landkreisen waren, dass sie in den nächsten Jahren in Ruhe in ihrer idyllischen Winterlandschaft leben wollen. Es war eine Absage an den generell befürchteten Kommerzrummel, weniger an das IOC oder die Idee der Spiele. Ich war mir sicher, dass die Volksabstimmung positiv ausgehen würde. Man hätte öffentliche Veranstaltungen über mehrere Monate im Vorfeld machen und die Vorteile deutlicher darstellen müssen. Doch hinterher hat man gut reden.

Hätten sich die Bewohner von Sotschi mehrheitlich für Olympische Winterspiele in ihrer Region ausgesprochen, wenn sie gefragt worden wären?

Ich denke ja, da die Russen ein sehr starkes vaterländisches Gefühl haben. Das wurde schon 1980 in der Boykottdebatte um die Spiele von Moskau deutlich.

Hat es ähnliche Kontroversen um die Vergabe und den Ausrichter Olympischer Spiele schon einmal gegeben?

Es gab den eklatanten Streit um einen Boykott der Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen als Auftakt zu Berlin 1936. Insbesondere die Diskussion in den Vereinigten Staaten war damals deutlich stärker, weil innenpolitische Lager aufeinandertrafen. Bei den Sommerspielen 1980 in Moskau gab es die unerbittliche Boykottdiskussion mit all ihren bekannten Folgen. In Bezug auf die Winterspiele 2002 in Salt Lake City wiederum hatte das IOC einen gewaltigen Korruptionsskandal in Bezug auf Stimmenkauf bei der Vergabe zu verkraften, der 1999 zur Reform des IOC und zum Ausschluss beziehungsweise Rücktritt von einem Dutzend IOC-Mitgliedern führte. Ich selbst gehörte der Re
formkommission damals als unabhängiger Experte an.

Sind politische Ideale kein Maßstab für das IOC?

Bei 204 Mitgliedsländern den Weltsport als Ganzes zu führen, ist eine gewaltige Aufgabe. Es allen recht zu machen ist unmöglich. Das haben wir an der Empörung um die Streichung von Ringen erlebt. Das Problem ist ja auch, die verschiedenen politischen Systeme und die unterschiedlichen Weltanschauungen in den olympischen Mitgliedsländern miteinander zu versöhnen. Denken wir nur an das Startrecht von Frauen aus muslimischen Ländern. Die Olympischen Spiele in Zukunft neu auszurichten wird für den deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach und die olympischen Mitgliedsverbände ein gewaltiges Stück Arbeit.

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