Die Ukraine-Krise und ihre Hintergründe

15. Mai 2014

Spezialisten sind gefragt, wenn es um die Krise in der Ukraine geht. Denn wer in Deutschland kennt sich schon aus mit dem wichtigen Nachbarn Russlands? Prof. Dr. Jan Kusber, Leiter des Arbeitsbereichs Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), bietet einige Puzzleteile, die das Bild vom Konflikt klarer werden lassen.

Das Wissen über die Ukraine ist gering in Deutschland. Auch die Schlagzeilen, die seit einem halben Jahr die Medien beherrschen, ändern wenig daran: Euromaidan-Proteste, der Sturz von Präsident Janokowytsch, die Annektierung der Krim-Halbinsel durch Russland, das Referendum zur Abspaltung der Ostukraine... Wer kann sich schon wirklich einen Reim darauf machen?

"Es gibt nur wenige Leute, die differenziert sagen können, wie zum Beispiel das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine ist", sagt Prof. Dr. Jan Kusber, Leiter des Arbeitsbereichs Osteuropäische Geschichte an der JGU. "Die Vogelflugperspektive reicht da nicht aus. Wir brauchen in solchen Konflikten Fachleute, die eine entsprechende Expertise bereithalten."

Kusber ist solch ein Spezialist. Er studierte Osteuropäische Geschichte, Slavische Philologie und Neue und Mittlere Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. "Meinen ersten Russisch-Sprachkurs habe ich auf der Krim absolviert." Auch sonst zog und zieht es ihn immer wieder in Richtung Ukraine. "Wir planen für kommenden September eine Exkursion mit Studierenden nach Galizien, ins frühere Kronland der k. u. k. Monarchie. Heute ist der eine Teil polnisch, der andere gehört zur Westukraine."

EU-Assoziierungsabkommen

Im Gespräch zeichnet Kusber kein Gesamtbild des Ukraine-Konflikts. Es soll auch keine Geschichtsstunde werden. Stattdessen präsentiert er Puzzleteile. Er spricht Details an, die das Bild von der Krise klarer machen.

"Das Assoziierungsabkommen, das die EU der Ukraine anbot, hat große Erwartungen geweckt. Dabei war vor allem intendiert, verstärkt Handel zu treiben. Es ging nie um einen Beitritt zur EU." Das aber sei der Eindruck vieler Ukrainer gewesen. "Danach wurde Politik gemacht in der Ukraine. Es ging um die Hoffnung auf ein besseres Leben." Diesen großen Erwartungen könne und wolle die EU allerdings nicht gerecht werden. "Aber sie werden am Leben gehalten, weil die Europäische Union in der Krise mit Geldmitteln Präsenz zeigt."

Vor allem der Westen der Ukraine schaut in Richtung Europa. "In sowjetischer Zeit hat man bereits auf das geschaut, was in Polen möglich war. Polen war der Maßstab für Freiheit und Entwicklung. Es war das Tor zum Westen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion galt das noch viel unmittelbarer."

Andererseits sei die Bindung zu Russland eng. "Die ukrainische Sprache galt lange als der kleine russische Dialekt. 1905 wurde sie durch die russische Akademie der Wissenschaften als eigene Sprache anerkannt. Dem Zar war das gar nicht recht." Die Ukraine ist zweisprachig, besonders im Osten hat das Russische Gewicht.

Menschen in der Ostukraine

"Die Aufteilung in einen nach Europa orientierten Westen und einen Osten, der nach Russland blickt, stimmt so ungefähr. Als Faustregel können Sie das übernehmen", sagt Kusber. "Aber in Kiew ist es schon nicht mehr so eindeutig."

Rätselhaft ist diese Zweiteilung für den Historiker nicht. "Lemberg in der Westukraine wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg Teil der Ukraine. Vorher gehörte es zu Polen." Die Ostukraine dagegen ist ökonomisch ganz auf Russland ausgerichtet. Die Schwerindustrie dort liefert unter anderem Rüstungsgüter nach Moskau.

Wichtiger noch ist Kusber allerdings ein Detail, das hilft, die große Zustimmung der Bevölkerung in den Regionen Donezk und Lugansk zum umstrittenen Referendum für eine Unabhängigkeit von der Ukraine zu erklären: "Sie haben in der Ostukraine und auf der Krim eine überalterte Bevölkerung, die sich fragt: Sind wir eigentlich abgesichert? Das Rentenniveau in Russland ist zwei- bis dreimal so hoch wie in der Ukraine. Viele Menschen haben ganz klar für eine soziale Absicherung votiert. Sie hoffen auf den Anschluss an Russland."

Russland sei auch deswegen Hoffnungsträger, weil sich die Ukraine nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und nach ihrer Unabhängigkeit in einigen Bereichen nur sehr langsam entwickelt habe. "Gerade was die alltägliche Korruption angeht, hat sich in der Ukraine wenig geändert. In Russland sieht das anders aus. Putin hat die Alltagskorruption beseitigt. Es ist sein Pfund, mit dem er wuchert. Das bedeutet nicht, dass die Korruption in Russland verschwunden ist, sie bewegt sich nur auf einer höheren Ebene."

Putin und die Separatisten

Da liege allerdings ein Problem Putins. "Nach der Herstellung von Stabilität und Sicherheit sagen viele: Jetzt muss die Modernisierung kommen, ein zivilgesellschaftlicher Ruck und eine stärkere Partizipation." Dies aber sei mit Putin kaum zu verwirklichen. "Von solchen innenpolitischen Dingen lenkt er ab mit einem übersteigerten Nationalismus, der auch bis in die Ukraine ausstrahlt."

Mit der Angliederung der Krim an Russland zeigt Putin außenpolitisch Stärke. Will er nun auch noch die Ostukraine einkassieren? "Die Annexion der Krim muss aus seiner Sicht gesichert werden", sagt Kusber. "Doch es gibt Probleme mit der Energieversorgung. Außerdem ist die Halbinsel wegen ihrer intensiven Landwirtschaft attraktiv. Die aber verbraucht viel Süßwasser – und das kommt vom ukrainischen Festland, aus der Ostukraine."

Dennoch seien die Separatisten nicht einfach von Russland eingesetzte Unruhestifter. "Es ist klar, dass die Moskauer Militärs mit diesen Leuten reden, es ist aber genauso klar, dass sich solche Gruppierungen schnell verselbstständigen. Putins Empfehlung, man möge das Referendum in der Ostukraine aussetzen, zeigt meines Erachtens, dass er beunruhigt ist über die Geister, die er rief."

Über einiges könnte Kusber noch ausführlich reden. Etwa über die faschistoiden Gruppierungen, die seinerzeit bei den Protesten auf dem Euromaidan mit von der Partie waren: "Dieser rechte Sektor würde bei uns verboten – und zwar zu Recht." Oder über die Rolle der Medien: "Bei uns bemühen sich die Journalisten, beide Seiten zu Wort kommen zu lassen. Die russischen Medien allerdings betreiben reine Indoktrination. Das ist Wahnsinn."

Expertisen für Osteuropa

Doch nun geht Kusbers Blick kurz zurück nach Deutschland und auf die deutsche Hochschullandschaft – zu den Spezialisten für den Osten. "Der Tenor nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war: Nun müssen wir uns wissenschaftlich nicht mehr so sehr mit der Region beschäftigen." So wurde das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln aufgelöst.

"Aber schon die Jugoslawienkriege hätten zeigen müssen, wie wichtig es ist, Expertisen bereitzuhalten." Als Gründungsdekan des Fachbereichs 07: Geschichts- und Kulturwissenschaften an der JGU hatte Kusber mit dieser Bereithaltung zutun. "In unserem Fachbereich gibt es viele kleine Fächer. Viele davon sind wichtig, um einen multiperspektivischen Blick auf Regionen wie Osteuropa zu erhalten."

Kusber setzt sich dafür ein, kleine Fächer wie die Kaukasiologie oder die Byzantinistik zu erhalten. "Der Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte hat noch Glück. Wir sind ein Großer unter den Kleinen, wir werden öfter nachgefragt." Aber auch die anderen Fächer brauche man. "Wir haben zum Beispiel ein Forschungsprojekt über die Dobrudschadeutschen, die in Rumänien und Bulgarien siedelten. Da brauchen Sie im Grunde Russisch, Rumänisch, Bulgarisch, Osmanisch und Tatarisch, um das richtig zu bearbeiten."

Nach diesem Exkurs tritt noch einmal die Ukraine-Krise in den Vordergrund. "46 Tote bei den Auseinandersetzungen in Odessa – das haben selbst Leute aus Odessa nicht für möglich gehalten. Wir haben Studierende mit Angehörigen dort, die machen sich natürlich Sorgen." Dann spricht wieder der Fachmann: "Odessa ist recht jung. Sie ist der Hafen für den Schwarzmeerhandel. Es ist eine multiethnische Stadt, in der es durchaus auch Spannungen gab. Aber mit so etwas rechnete niemand."

Puzzleteil fügt sich an Puzzleteil. Das Bild wird klarer. Kusber hätte noch viel zu erzählen.

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