Von Unterschieden und Unterscheidungen

17. April 2015

Menschen sind nicht einfach unterschiedlich, sie machen Unterschiede untereinander. Mal soll die Hautfarbe eine Rolle spielen, dann die Konfession, die Nation oder das Geschlecht. Die Forschergruppe "Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung" spürt den Mechanismen nach, die hinter solchen Unterscheidungen stecken und die sie wieder verschwinden lassen. Forscherinnen und Forscher der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) arbeiten hier Hand in Hand – über die Grenzen ihrer Fächer hinweg.

Prof. Dr. Stefan Hirschauer schaut hinüber zu seiner Kollegin. "Sie ist mehr Soziologin als ich", sagt der Soziologe über die Ethnologin. Prof. Dr. Carola Lentz kontert: "Und er hat die Methoden der Ethnografie präziser beschrieben als Methodenhandbücher es gewöhnlich tun." – "Sie können Ethnologie nicht ohne Soziologie betreiben und umgekehrt", bekräftigt Hirschauer. Die Fachgrenzen scheinen zu fallen. Interdisziplinarität ist gefragt. Obwohl: Das geht dem Soziologen nicht weit genug. "Interdisziplinarität klingt viel zu sehr nach Bandagen", meint er. "Jedes einzelne Fach hat eine Art verzerrten Blick. Es geht darum, die Fachidiotien zu korrigieren."

Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Forschergruppe "Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung" beschäftigt sich mit der Grenzziehung zwischen Menschen. Menschen teilen Menschen danach ein, zu welcher Nation sie gehören oder welchen Glauben sie haben. Doch damit nicht genug: Mann oder Frau, schwarz oder weiß, Leistungsträger oder Aussteiger, all das macht einen Unterschied.

Oberflächenphänomene tief verankert

"Unsere Alltagsperspektive ist die: Wir gehen davon aus, dass wir Menschen unterschiedliche Eigenschaften haben, die letztlich verschiedene Menschensorten begründen. Menschen sind halt unterschiedlich." Hirschauer hält einen Moment inne. "Aber wie tief sitzen diese Differenzen wirklich? Wurzeln sie fest in Identitäten oder sind es variable Oberflächenphänomene?"

"Die Sozial- und Kulturwissenschaftler der Forschergruppe gehen davon aus, dass man besser nicht von Unterschieden, sondern von Unterscheidungen sprechen sollte." Menschen schreiben sich gegenseitig Eigenschaften zu und das mit wechselnden Akzenten. Sie bauen Mauern zwischen angeblich verschiedenen Gruppen, aber sie reißen diese Mauern auch wieder ein.

Hirschauer verweist auf historische Prozesse: "Mit der Entwicklung der Nationalstaaten wurden auch Unterscheidungen wie Geschlecht oder Rasse hochgefahren. Heute hat der Nationalismus in Europa an Kraft verloren. Die Unterscheidung von Rassen ist verpönt. Mit dem Geschlecht ist man noch nicht ganz so weit." Tradierte Differenzierungen verschwinden oder werden nebensächlich, dafür treten neue auf: Wer leistet viel, wer versagt? Wer ist gebildet, wer nicht?

Seit dem Jahr 2008 beschäftigt sich die Forschergruppe an der JGU intensiv mit diesen Phänomenen. Acht Professorinnen und Professoren aus drei Fachbereichen und fünf Fächern arbeiten zusammen: Neben Lentz und Hirschauer sind dies die Linguistin Prof. Dr. Damaris Nübling, der Soziologe Prof. Dr. Herbert Kalthoff, der Theaterwissenschaftler Prof. Dr. Friedemann Kreuder, der Ethnologe Prof. Dr. Matthias Krings und die Amerikanisten -Prof. Dr. Oliver Scheiding und Prof. Dr. Mita Banerjee. Seit zwei Jahren wird die Gruppe von der DFG unterstützt. Der Forschungsverbund "Un/doing Differences" ist auf sechs Jahre angelegt. In diesem Herbst wird seine Fortsetzung beantragt.

Unsichtbares sichtbar machen

Das Thema der Gruppe berührt einen zentralen Punkt des menschlichen Zusammenlebens. "Viele Forschungsfelder beschäftigen sich mit Unterscheidungen", meint Lentz. So geht es den Gender Studies um das Geschlecht, Nationalforschung und Religionsforschung greifen wieder andere Aspekte heraus. "Aber niemand schaut auf das Ganze. Die Spezialisten für diese verschiedenen Forschungsfelder haben eine Art verzerrten Blick."

Und diesen verzerrten Blick gilt es zu korrigieren. "Wir haben von Beginn an alle zwei Wochen getagt, um uns gegenseitig unsere jeweiligen Forschungsperspektiven zu erläutern. Aus dieser langjährigen Zusammenarbeit ist dann unser DFG-Antrag erwachsen."

Acht Teilprojekte schauen auf sehr unterschiedliche Facetten von "Un/doing Differences": Ethnische und nationale Differenzierungen in afrikanischen Nationalfeiern sind die Spezialität von Prof. Dr. Carola Lentz. "Wenn Sie auf den Nationalstaat abzielen, haben Sie ein Problem: Wie machen Sie eigentlich etwas Unsichtbares wie die Nation sichtbar? Das funktioniert zum Beispiel über eine Nationalfeier, über Nationalflaggen, Nationalhymnen."

Ein Element der Nationalfeier ist die Parade. "Hier tauchen ganz verschiedene Gruppen auf, oft getrennt nach Alter, Geschlecht oder Beruf." Lentz führt das Beispiel Ghana an. "Jeder hat seinen festen Platz, bei der Parade selbst und im Publikum. Es gibt eine klare Sitzordnung: da die Parlamentsabgeordneten, dort die Geistlichen, da die Militärs. Berufsgruppen, Ethnien oder Schulklassen präsentieren sich." Unterscheidungen werden deutlich, werden sichtbar. Zugleich aber werden sie zusammengefasst unter dem nationalen Slogan "Unity in Diversity". Sie treten in den Dienst der Nationalidee.

Ein Baukasten zur Forschung

Hirschauer tastet sich in das Gebiet der Kollegin vor: "Wir sehen hier eine Superordination des Nationalstaats und eine Subordination von allem anderen. Aber wie funktioniert das im Alltag, wie wird das ausgehandelt? Was passiert mit Minderheiten?"

"Doing Differences" scheint allgegenwärtig: Unter den Nationalsozialisten bekam der Begriff der Rasse ungeheures Gewicht – mit fatalen Folgen. Nach dem Anschlag vom 11. September 2001 wurden die arabische und die christliche Welt zunehmend als Blöcke gesehen. Aber auch "Undoing Differences" findet unentwegt statt. "Nehmen Sie die jüngsten Wahlen in Israel, die Arabische Liste: Da treffen sich plötzlich Islamisten, Feministinnen und Linke", erzählt Hirschauer.

"Wir wollen verstehen, wie Unterscheidungen zwischen Menschen entstehen und wie sie sich verändern. Wann wird der eine Aspekt herunter-, wann der andere hochgefahren? Auf Kosten welcher Gruppen geschieht das? Was hat es überhaupt auf sich mit dieser Obsession der Unterscheidung? Wann brauchen wir das? In der Forschergruppe haben wir schon viel gelernt über die allgemeinen Spielregeln. Derzeit sind wir dabei, eine gemeinsame analytische Sprache zu entwickeln, eine empirisch gesättigte Fachsprache."

"Wir stellen einen konzeptuellen Baukasten zu diesen Fragen zusammen", nimmt Lentz den Faden auf. "Das geht aber nur, wenn wir wirklich eng zusammenarbeiten. Es reicht nicht, einfach eine Gruppe zu bilden, einen Sprecher zu wählen, und das war's. Damit fängt die Arbeit überhaupt erst an, wenn Sie Interdisziplinarität ernst nehmen wollen."

Damit hat diese Forschergruppe vor sechs Jahren begonnen. Mittlerweile ist das Projekt "Un/doing Differences" mittendrin. "Wir haben zusammengefunden und das über ganz erhebliche Differenzen hinweg", sagt die Ethnologin. Der Soziologe nickt zustimmend.