Die medikalisierte Gesellschaft

15. Mai 2015

Prof. Dr. Dr. Perikles Simon ist jüngst in die Evaluierungskommission berufen worden, die untersucht, inwieweit die Universität Freiburg in die Dopingpraxis deutscher Fußballvereine verwickelt war. Zu diesem Thema äußerte sich der Leiter der Abteilung Sportmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) bereits mehrfach vor TV-Kameras. Doch in einem ausführlicheren Gespräch spannt er den Bogen weiter: Doping sei nicht in erste Linie ein Problem des Spitzensports, Doping habe seinen festen Platz in der Mitte der Gesellschaft.

Im Fußball wird nicht gedopt, dafür ist das Spiel zu komplex. Die Anforderungen an die Sportler sind viel zu differenziert. Und überhaupt, in einem Mannschaftssport ist Doping kaum zu machen. Der Fußball hat also kein Dopingproblem. So oder ähnlich ist es immer wieder zu hören – ob von Funktionären, von Trainern oder Spielern.

Doch jüngste Schlagzeilen trüben das Bild. Ein Mitglied der Evaluierungskommission zur Dopingvergangenheit der Universität Freiburg spricht unter anderem von massivem Anabolika-Einsatz beim VfB Stuttgart in den 1980er-Jahren. Abgesprochen war dieser frühe Vorstoß nicht. Die Untersuchungen der Kommission sind noch nicht abgeschlossen. Aber die Diskussion ist eröffnet.

Doping für jeden Sport

"Doping bringt mit Sicherheit in jeder Sportart etwas, selbst im Wettkampfsegeln", konstatiert Prof. Dr. Dr. Perikles Simon, Leiter der Abteilung Sportmedizin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und seit Februar 2015 Mitglied der Freiburger Evaluierungskommission. Er erinnert an den Dopingskandal um BALCO im Jahr 2003: Die US-amerikanische Firma Bay Area Laboratory Co-Operative hatte nicht nur die Sprinter Marion Jones und Tim Montgomery mit Designersteroiden versorgt. Auch Baseballer und Footballer gehörten zu den Kunden. "Und Baseball ist noch komplexer, noch schneller als Fußball. Es sind sehr spezielle physische Tugenden gefragt."

Als einer der bundesweit führenden Spezialisten in Sachen Doping hat Simon dazu in den vergangenen Wochen bereits einiges gesagt. Er war bei diversen Fernsehsendern zu Gast, unter anderem sprach er beim Aktuellen Sportstudio im ZDF über Doping im Fußball, Doping im Spitzensport.

Doch beim Gespräch in seinem Büro auf dem Gutenberg-Campus will er einen anderen Schwerpunkt setzen. Er denkt das Thema weiter und gibt ihm eine ganz eigene Wendung, die wegführt von den wohlfeilen Schlagzeilen. "Dazu war in den Fernsehsendungen leider nicht genug Zeit", meint er lächelnd.

"Es gibt keine exakten offiziellen Zahlen, wie viele Fußballprofis es gibt. Inoffizielle Schätzungen rechnen aber mit 190.000 bis 300.000 weltweit. Das sind natürlich längst nicht alles Spitzensportler. Da reden wir vielleicht von 30 Spielern." Eine überschaubare Gruppe also, ein kleine Minderheit.

Doping im Hörsaal

"Um das Phänomen Doping wirklich begreifen zu können, ist es wichtig zu sehen, wie zentral dieses Thema gerade in der Normalbevölkerung ist. Wir leben in einer medikalisierten Gesellschaft. Wir nehmen massenweise Medikamente, obwohl sie der Arzt gar nicht verschrieben hat", sagt der Mediziner.

"Unsere Umfragen zeigen, dass beispielsweise im Fitnessstudio rund 15 Prozent aller Besucher anabole Steroide nehmen. Und dann haben wir in einem ganz anderen Bereich das Phänomen des Gehirndopings – auch an Universitäten. 15 Prozent der Studierenden nehmen Mittel wie Betablocker, um gelassener in die Prüfung zu gehen, oder sie nehmen Koffeintabletten oder Aufputschmittel, um mehr zu leisten." Einen kleinen Lichtblick gewährt Simon immerhin: "Die Quote bei den Erstsemestern ist höher als später im Studium." Es mag also sein, dass da eine Art Sensibilisierung stattfindet und dass das Problem nicht an der Universität, sondern im Elternhaus entsteht. Aber sonst?

"Medikamente sind allgegenwärtig. Das geht bis zu der Mutter, die die ADHS-Mittel ihres Kindes nimmt. Der Substanzkonsum wird oft schon im Elternhaus eingeübt. Es ist viel Aufklärungsarbeit nötig, um da gegenzusteuern."

Von hier schaut Simon auf die Eliteschulen des Sports im westdeutschen Raum, wo sich mit den gleichen sensitiven Befragungstechniken kein Doping nachweisen ließ. "In der Gruppe der leistungsstärksten Jugendlichen, bei den im Durchschnitt 16-jährigen Kaderathleten, haben wir die niedrigste Dopingquote im Leistungssport. Sie liegt bei 7 Prozent. Gegenüber der Normalbevölkerung ist das mehr als eine Halbierung." Ähnlich sehe der Trend bei den Athleten der gehobenen Leistungsklasse unterhalb des Spitzensports aus. "Sie sind sauberer als unsere Durchschnittsbevölkerung."

Doping als Selbstaufgabe

Für den Sportler Simon ist das einleuchtend: "Primär will der Sportler seine eigene Leistung aufrufen. Da ist es ein Stück Selbstaufgabe zu dopen. Der Sportler definiert sich viel zu sehr darüber, was sein eigener Körper leistet."

Natürlich werde dennoch immer wieder an gewissen Schrauben gedreht. "Sport definiert sich über Regeln. Wenn eine Mannschaft ein doppelt so großes Tor hat wie eine andere, dann hat sie schlicht keine Chance. Aber es sieht auch jeder sofort, dass da Manipulation dahintersteckt. Wenn man pharmakologisch nachhilft, ist das erst einmal nicht so sichtbar. Aber eine Mannschaft, die gegen eine gedopte Mannschaft angreift, merkt sehr schnell: Da kann etwas nicht stimmen. Die andere Mannschaft hat entweder nur ein halb so großes Tor oder aber die Räume werden so schnell und effektiv zugestellt und wir werden so effektiv physisch ausgeschaltet, dass wir das Tor gar nicht sehen."

Das sei die inoffizielle Seite des Sports: In bestimmten Situationen bleibe einem Athleten kaum etwas anderes übrig als zu dopen, denn er merke im Gegensatz zu manchem Zuschauer sehr schnell, wenn der Gegner manipuliert. "In einer extremen Form kennen wir das vom Radsport." Auch im Fußball komme das Problem immer wieder hoch, selbst wenn viele Akteure es gern totschweigen würden. "Im Jahr 2004 meinte Arsenal-Trainer Arsène Wenger, dass bei Spielern, die von Juventus Turin oder Olympique Marseille zu ihm kommen, immer wieder auffällige Blutwerte festgestellt werden, die sich dann im Lauf der Zeit normalisierten. Wenn ein prominenter Trainer so von den eigenen Spielern spricht, sagt das schon einiges."

Upper und Downer

Doch die Wurzel des Übels liege eben gerade nicht im Spitzensport, obwohl der für die Schlagzeilen sorge. Sie reiche tiefer. Simon sieht ein gesamtgesellschaftliches Problem gerade im Umgang mit Aufputschmitteln, mit den sogenannten "Uppern". Ob anabole Steroide oder legale Substanzen wie Koffein, sie würden oft toleriert oder gar akzeptiert.

Auch den Alkohol spricht Simon an, der im Grunde nicht zu den "Uppern" zählt. "Auch wenn er über 0,3 Promille physisch nicht gerade puscht, wird er in der Bevölkerung ja vor allem auch wegen seiner enthemmenden Wirkung gern über den soziokulturell akzeptierten Durst getrunken. Dabei steht der Alkohol, gerade wenn es um Fremdgefährdung geht, weit vor allen anderen Substanzen auf Platz eins."

Umgekehrt seien die "Downer"-Drogen der 68er, der Bewegung, die für eine andere Gesellschaft stritt, bis heute verpönt. "In der Vergangenheit haben wir immer wieder erlebt, dass Richter in Fällen von Doping mit anabolen Steroiden gar keine richtige Lust hatten, den Fall zu verfolgen." Alkohol diene eher als guter Grund, die Schuldfähigkeit in Frage zu stellen und Strafen zu reduzieren. Aber wenn es um Haschisch geht ..."

Simon hat den Bogen weit gespannt. "Dass diese Themen inzwischen auf breiter Basis diskutiert werden, das ist ein Fortschritt", meint er. Die Schlagzeilen rund um den Spitzensport stünden da eher für ein Randproblem.