Ein Schatz klärt auf über den jüdischen Alltag im 18. Jahrhundert

9. Februar 2012

Die Geniza der alten Weisenauer Synagoge bietet einen tiefen Einblick in die jüdische Kultur und den Alltag der Gemeinde. Seit zweieinhalb Jahren durchforscht Prof. Dr. Andreas Lehnardt von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) die Hinterlassenschaften aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Er bringt einzigartige Funde ans Tageslicht.

Die Geniza der alten Weisenauer Synagoge bietet einen tiefen Einblick in die jüdische Kultur und den Alltag der Gemeinde. Seit zweieinhalb Jahren durchforscht Prof. Dr. Andreas Lehnardt die Hinterlassenschaften aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Er bringt einzigartige Funde ans Tageslicht. Rund zwei Dutzend graue Kartons stapeln sich in seinem Büro. In den nächsten Tagen wandern sie erst mal ins Stadtarchiv. Ein paar davon aber stehen noch geöffnet auf dem Schreibtisch. Einer ist bis zum Rand gefüllt mit alten hebräischen Schriften.

Meist sind es kleinformatige Buchfragmente, viele davon schwer beschädigt. "Da haben Mäuse ihr Nest drin gebaut", kommentiert der Professor für Judaistik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ein anderer Karton enthält Tefillin, Gebetsriemen mit kleinen Kapseln, in denen Zettel mit den handgeschriebenen Bibelzitaten stecken. "Sie wurden an den Arm und an die Stirn gebunden." Und dann ist da diese kleine Sammlung von Kinderschuhen. "Die sind uns im Moment noch ein Rätsel", gibt Lehnardt zu. Sicher ist er sich allerdings in einem Punkt: "Viele dieser Funde sind einzigartig."

Weisenauer Synagoge geriet in Vergessenheit

Die Stücke stammen alle vom Dachboden der Weisenauer Synagoge in der heutigen Wormser Straße in Mainz. Das kleine jüdische Gotteshaus diente nach der Schändung und Plünderung durch die Nationalsozialisten als Lagerraum und Hühnerstall. Erst in den späten 1970er Jahren erinnerte man sich seiner ursprünglichen Funktion - und fand auf dem Dachboden einen Schatz: die Geniza.

Der Name Gottes wird in der jüdischen Religion besonders heilig gehalten. "Das geht so weit, dass er nicht ausgesprochen wird", erklärt Lehnardt, "und Schriften, die den Gottesnamen enthalten könnten, müssen bewahrt werden." Das geschah und geschieht auch heute noch in der Synagoge, in den Genizot. "Das Wort lässt sich nicht genau übersetzen, es bedeutet in etwa Stauraum, Lagerraum, aber auch Schatzkammer." Jeder Zettel, jedes noch so triviale Schriftstück, das den Gottesnamen enthalten könnte, landet hier. "Manchmal reicht es schon, das man aus den Buchstaben den Namen bilden kann."

300 Jahre alte Schreibübungen

Die Weisenauer Geniza enthält demzufolge nicht nur religiöse Schriften. Lehnardt blättert ein schmales Bändchen auf und zeigt eine Kapitelüberschrift: "Das hier bedeutet 'Multiplizieren'. Es ist ein Rechenbuch aus dem 18. Jahrhundert. So was ist sonst nirgends erhalten." Aus einem anderen Karton holt er ein einzelnes Blatt. "Das sind Schreibübungen eines Schülers." So etwas landet bei Christen auf dem Müll. Etwas Vergleichbares gibt es heute nicht mehr. Auf diesem Zettel hat ein Dreikäsehoch vor vielleicht 300 Jahren seine allerersten Buchstaben gekritzelt.

"In Deutschland sind uns ein Dutzend alte Genizot bekannt", erzählt Lehnardt, "allein sechs davon befinden sich in Rheinland-Pfalz." Vor kurzem erst wurde eine Geniza in Niederzissen entdeckt. "Wir mussten mit Atemmasken da rein", erinnert sich der Professor. "Die Dokumente reichten mir bei zur Brust." Wie in Weisenau wurde auch dort alles ohne jede Ordnung hinterlegt. Eine weitere Verwendung war nicht vorgesehen, dies war die Endstation, nur wegschmeißen ging eben nicht.

Einmaliger Blick aufs jüdische Leben

Die Genizot bieten einen einmaligen Einblick ins damalige alltägliche Leben. Wissenschaftler und jüdische Gemeinden aus aller Welt interessieren sich dafür. Lehnardts Forschungen erregen großes Aufsehen, schließlich könnten sie Antworten auf verschiedenste Fragen geben. "Wo wurde gedruckt? Was wurde gelesen? In Weisenau fanden wir viele jiddische Texte und auch Unterhaltungsliteratur, die sonst nicht überliefert ist."

Die Bandbreite der Dokumente, die meist aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen, ist ungeheuer. Kindererzählungen und Fabeln sind darunter, die Satzung einer Beerdigungsbruderschaft, ein Kalender mit Zugverbindungen und Daten zu den Messen in der Region oder auch ein Kindbettblatt: "Es wurde über das Bett der Gebärenden gehängt. So sollte es gegen den bösen Blick und gegen die Dämonin Lilith helfen." Überhaupt enthält die Weisenauer Geniza einiges, was auf magische Praktiken hinweist. "Damit waren die gelehrten Rabbiner sicher nicht glücklich", meint Lehnardt. Aber solche Dinge erlauben ein tiefen Blick in den Alltag, der sonst nur gefiltert möglich ist.

Hoffen auf Drittmittel

Seit zweieinhalb Jahren arbeitet Lehnardt am Geniza-Projekt Weisenau. "Ich sehe mich erst einmal als Archäologen, der die Sachen ausgräbt und katalogisiert." Viele Forschungszweige werden sich für den Inhalt der Geniza interessieren, da ist er sicher. "Ich hoffe auf weitere Drittmittel", so Lehnardt. Schließlich gibt es noch viel zu enträtseln. Er schaut zum Karton mit den Kinderschuhen hinüber. "Wir haben immer nur Einzelstücke gefunden." Aber warum kamen sie in die Geniza? Wo war da der Name Gottes? Es gibt noch viele Rätsel und Lehnardt würde sie gern alle lösen. Doch dafür braucht er Zeit und finanzielle Förderung.