Integration in Praxis und Theorie

2. Juni 2015

Studieren wollte er nie. Necati Benli ging nach dem Abitur lieber zur hessischen Polizei. Auf diesem Umweg aber kam er dann doch an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU): Benlis Vorgesetzter, der Polizeipräsident, brauchte einen Spezialisten in Sachen Islam. Er wollte Polizeipraxis mit Wissenschaft vereinen und machte Benli ein ungewöhnliches Angebot.

Auf dem Tisch steht ein Teller mit selbst gebackenen Plätzchen. Necati Benlis Kollege hat sie mitgebracht. "Das hier ist etwas Besonderes", erklärt der Polizist mit Wurzeln in Marokko und zeigt auf eine Feige im Teigmantel. "Und das hier, das sind Vanillekipferl", der Beamte grinst, "Vanillekipferl mit Migrationshintergrund." Dann verabschiedet er sich und überlässt das Büro seinem türkischen Kollegen. "Du kannst gern dableiben", meint Benli noch, "das stört nicht." Ein Abwinken, ein Lächeln, "nein, nein ...", ein Handschlag noch zum Abschied. Nun kann sich Benli ganz auf das anstehende Gespräch konzentrieren.

Der gebürtige Wiesbadener mit türkischem Pass ist Landesmigrationsbeauftragter der hessischen Polizei – und er ist Doktorand der Kulturanthropologie am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Auf das Thema seiner Doktorarbeit angesprochen, zögert der 37-Jährige kurz. "Der Ideenfindungsprozess läuft noch", meint er. "Im Doktorandenkolloquium haben sie geschmunzelt, als ich meinen Arbeitstitel vorgestellt habe. Kennen Sie den Spruch von der Polizei als Spiegel der Gesellschaft?" Diesen Spruch hat Benli genommen und weitergeführt.

Spiegelbild der Gesellschaft

"Die Polizei als Spiegelbild der Gesellschaft in Zeiten des demografischen Wandels" – das ist sein großes Thema. Es beschäftigt ihn als Polizist und als Wissenschaftler. "Mit demografischem Wandel meine ich nicht die Überalterung", stellt er klar, "ich meine die ethnische Pluralisierung. In den nächsten 15 Jahren wird sich die Gesellschaft in Deutschland in dieser Hinsicht drastisch verändern.

Veränderung ist ein gutes Stichwort, wenn es um Benlis Geschichte geht: 1968 kommt sein Vater von Zentralanatolien nach Deutschland. Erst arbeitet er in der Stahlindustrie, dann bei der Bahn. 1971 holt er seine Frau nach. Vier Kinder kommen zur Welt. Necati und sein Zwillingsbruder sind die Nesthäkchen. Sie machen am Gymnasium in Idstein ihr Abitur. "Wir waren die ersten Türken dort, eine Rarität in den 1990ern. In so einem Umfeld wurden wir sozialisiert. Ich glaube, das war ein Vorteil."

Nach der Schule wusste Benli eines ganz genau: "Ich wollte nicht studieren." Die hessische Polizei suchte Bewerber mit Migrationshintergrund. "Hier hat man viel früher auf den gesellschaftlichen Wandel reagiert als in vielen anderen Bereichen." Bei seiner Aufnahmeprüfung musste Benli Kenntnisse im Türkischen nachweisen. "Das war Einstellungsbedingung."

Berufspraxis und Wissenschaft

2004 arbeitete er beim Landeskriminalamt in Wiesbaden im Bereich politisch motivierter Kriminalität. "Unser damaliger Polizeipräsident Peter Raisch kam mit einer sehr innovativen Idee." Kompetenzen in Sachen Islam waren vermehrt gefragt, gerade nach den Anschlägen des 11. September 2001. "Wir hätten uns einen Islamwissenschaftler von außen holen können, aber Raisch meinte: Warum sollen wir nicht eine Personaleinheit schaffen zwischen Berufspraxis und Wissenschaft?"

Der Polizeipräsident schlug Benli, der sich sechs Jahre zuvor gegen das Studieren und für die Polizei entschieden hatte, ein Studium vor. "Ich habe mir Bedenkzeit erbeten." Benli schaute sich um an den Universitäten in Frankfurt und Mainz. Zum Wintersemester 2004 schrieb er sich an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ein. "Meine Fächer waren Islamkunde, Islamische Philologie und Politikwissenschaft." Zuerst fühlte er sich als Polizist, der nebenher studiert. "Doch die Perspektive verschob sich. Bald war ich der Student, der auch mal bei der Polizei vorbeischaut."

Benli bezeichnet sein Türkisch, das er von Haus aus spricht, als "Küchentürkisch". "Im Studium, mit 27 Jahren, entdeckte ich das Türkische neu. Ich dachte: Toll, jetzt lernst du die Grammatik, jetzt weißt du, warum du so sprichst, wie du sprichst. Ich erfuhr, dass die türkische Sprache so etwas wie eine Vokalharmonie besitzt, dass wir die Vokale im Klang aneinander anpassen."

Eine Frage des Milieus

Im Jahr 2010 beendete Benli sein Studium. Die Polizeiarbeit rückte wieder in den Vordergrund. Als Landesmigrationsbeauftragter koordiniert er heute die 18 Migrationsbeauftragten der hessischen Polizei. Doch daneben beschäftigt ihn weiter die Wissenschaft. Beides will er verbinden in seiner Doktorarbeit: "Die Polizei als Spiegelbild der Gesellschaft in Zeiten des demografischen Wandels."

Er tut sich schwer – nicht mit dem Thema selbst, aber mit dem Schreiben an der Dissertation. "Vielleicht bin ich zu nah dran. Vielleicht wäre ich eher der Spezialist, bei dem jemand, der solch eine Doktorarbeit schreibt, nachfragen würde." Dass ihn dieses Thema auf vielen Ebenen beschäftigt, beweist er im Gespräch. Wissenschaftliche Erkenntnisse und persönliche Erfahrungen ergänzen sich zu einem differenzierten Bild.

Integration ist weit fortgeschritten in Deutschland, davon ist Benli überzeugt. "Aus dem Milieu der einstigen Gastarbeiter heraus gibt es längst Universitätsabsolventen und Politiker." Aber es ist eben auch so, dass Menschen mit Migrationshintergrund vermehrt am unteren Rand der Gesellschaft zu finden sind. "Nur ein Drittel der sogenannten Mehrheitsgesellschaft ist in sozial schwachen Milieus beheimatet. Bei Menschen mit Migrationshintergrund sind es 60 Prozent."

Gerade in sozial schwachen Milieus aber kommt es vermehrt zu abweichendem Verhalten – etwa bei Jugendlichen. Der Eindruck entsteht: Türkische Jugendliche begehen vermehrt Straftaten. Diese Zuschreibung führt jedoch in die Irre. Das Milieu spielt die erste Geige, nicht der Migrationshintergrund.

Erfahrungen im Polizeialltag

"Nehmen Sie einen Akademiker, einen Arzt mit türkischer Herkunft. Der hat mit seinen deutschstämmigen Kollegen viel mehr gemein als mit dem türkischen Sprayer auf der Straße. Der wiederum wird sich auch nicht mit dem Arzt verbunden fühlen, sondern mit seinem Milieu, mit den Sprayern – egal, welcher Herkunft."

Polizisten, die im Berufsalltag mit diesen schwachen Milieus arbeiten, sehen oft die Türken als die Straftäter. "Das stimmt, stimmt aber auch wieder nicht. Wir müssen diese Alltagserfahrung der Kollegen ernst nehmen, ihnen aber zugleich vermitteln, dass Milieulandschaften nicht eine Frage von Herkunft, Heimat oder Religion sind."

Doch just diese Zuschreibungen vernebeln den Blick. Benli nennt ein Beispiel: "Nach dem Anschlag vom 11. September kam die Zuschreibung 'Muslim' in Mode." Türken, Syrer oder Iraker wurden damit belegt – unbesehen ihrer tatsächlichen religiösen Überzeugung. "Der Muslim" geisterte durch die Köpfe und die Schlagzeilen, ähnlich wie "der Russe" in Zeiten des Kalten Krieges.

Von wichtigen Kleinigkeiten

"Hinzu kommt eine Bewertung dieser Fremdzuschreibungen. Karrierebewusste Eltern sehen zum Beispiel kein Problem darin, wenn ihr Nachwuchs im Kindergarten Englisch lernt. Aber wenn es um Türkisch geht, ist das Geschrei groß. Als die CSU forderte, dass Familien mit Migrationshintergrund nicht in ihrer Herkunftssprache kommunizieren sollen, hätte ich beinahe nachgefragt: Aber Französisch oder Englisch dürfen sie sprechen?"

Benli ist mit Leidenschaft dabei, wenn es um diese Themen geht – ob in Theorie oder Praxis, ob im Großen oder Kleinen. "Wenn Sie in einem Beruf arbeiten, der mit kultureller Vielfalt zu tun hat, prägt das." Der Polizist erzählt aus seinem Alltag: "Sie suchen sich Strategien der Kommunikation. Oft sind es nur Details. Ich versuche zum Beispiel, zumindest fünf, sechs Worte in verschiedenen Sprachen zu lernen. Schon das bewirkt viel. Die Leute merken, dass ich mich mit ihrer Kultur beschäftigen möchte, dass ich ihnen Wertschätzung entgegenbringe."

Benli deutet auf ein weiteres Detail: auf das Gebäck vor ihm auf dem Tisch. "Das Kulinarische wird oft unterschätzt", meint er. "In der Türkei gibt es ein Sprichwort: Lassen Sie uns süß speisen und süß ins Gespräch kommen." Das ist gelungen bei Dattelplätzchen und den Vanillekipferln mit Migrationshintergrund.