21. Januar 2013
Das Gesangbucharchiv der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) enthält die weltweit wohl bedeutendste Sammlung und Forschungsstelle zur christlichen Gebrauchsliteratur. In Gesangbüchern spiegelt sich Geschichte auf einzigartiger Weise. Prof. Dr. Hermann Kurzke lädt ein zu einer Reise durch die Jahrhunderte.
Die metallene Schublade gleitet auf, zum Vorschein kommen Bücher. Alte, sichtlich mitgenommene Bücher. "Das hier ist etwas Besonderes", sagt Prof. Dr. Hermann Kurzke, während er einen dicken Band herausnimmt. "Ich habe es einem Sprengmeister abgekauft, einem Arbeiter, der in seiner Garage Gesangbücher sammelte. Es hat leider Brandspuren."
Kurzke schlägt die erste Seite auf. "Berlin 1700" steht dort. Ein kunstvoller Stich zeigt eine Harfe. "Das Bild für die Psalter." Dazu eine Taube. "Für den Heiligen Geist." Aus der Harfe fließt Wasser, das zu Flüssen wird und damit zum Teil einer Landkarte. Deutschland ist zu sehen, darauf wächst ein blühender Baum, daneben Frankreich mit einem verdorrten Baumskelett. "Das bezieht sich auf die Hugenottenkriege." Den französischen Protestanten ging es damals ans Leben.
Was die Hugenotten sangen
"Dies ist der Lobwasser-Psalter. Ein Buch, das vor allem auf Calvin zurückgeht", erklärt Kurzke. "Seine evangelische reformierte Kirche verbot vieles, was Spaß macht. Romane lesen zum Beispiel." Oder Lieder singen im Gottesdienst. Einzig was in der Bibel stand, durfte ausnahmsweise gesungen werden. So verfielen die Hugenotten auf die Psalter.
"Sie wurden über den Umweg der lateinischen Bibel in gereimte Strophenlieder umgedichtet." Das Projekt war ehrgeizig. Das Werk sollte 150 verschiedene Melodien enthalten, 150 verschiedene Strophenformen dazu. "Es wurde zu einem Kompendium der Metrik. Lobwasser hat das dann im 16. Jahrhundert ins Deutsche übersetzt." Der Einfluss dieser Arbeit war ungeheuer. Die kühnen neuen Formelemente machten Schule.
Gesangbücher aus vier Jahrhunderten
Hermann Kurzke ist zu Besuch im Gesangbucharchiv, das er einst auf dem Campus der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gründete. Eigentlich ist der Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte seit 2005 im Ruhestand. "Aber ich komme immer wieder hier vorbei."
"Wöchentlich", ergänzt Dr. Christiane Schäfer lächelnd. Gemeinsam mit Hermann Kurzkes Ehefrau Marle betreut sie das Archiv, in dem mittlerweile rund 4.000 Gesangbücher versammelt sind. Es hat sich zu einer weltweit einmaligen Forschungsstelle auf diesem Gebiet gemausert, wahrscheinlich ist es das einzige seiner Art.
In einem bescheidenen Wohnhaus auf dem Campus ist das Archiv untergebracht. Dort reihen sich in einer umfunktionierten 5-Zimmer-Wohnung die Gesangbücher aus vier Jahrhunderten in den Regalen. Dazwischen finden sich Arbeitsplätze für Forschende. Computer stehen auf alten Bürotischen. Das ursprüngliche Wohnzimmer nennt sich "Seminarraum". An einem großen dunklen Holztisch stehen Polsterstühle.
Viel Forschung im Archiv
"Wir sind zufrieden", sagt Kurzke, "auch wenn es immer wieder eng wird." Jährlich kommen 300-400 Gesangbücher hinzu. Oft sind es Schenkungen. Der Etat ist klein, aber in Sachen Drittmittelwerbung ist das Archiv gut. Organisiert ist es als Interdisziplinärer Arbeitskreis, der auch in der Forschung viel vorzuweisen hat. Allein die eigene Schriftenreihe der Hymnologischen Studien umfasst 24 Bände.
All diese Fakten allerdings treten zurück, wenn Kurzke durch das Archiv führt. Wenn er einen der Schätze in die Hand nimmt und erläutert, reißt das mit. Wer bisher Gesangbücher für eine kulturelle Marginalie hielt, wird auf höchst anregende Weise eines Besseren belehrt.
"Kulturgeschichtlich sind Gesangbücher ein enorm ergiebiges Medium. Ihre Auflagen erreichen Millionen und Abermillionen. Ihre Kraft ist viel stärker als etwa die Lyrik eines Clemens Brentano – auch wenn ich die schätze." Gesangbücher erreichen alle Schichten. Sie sind dabei ständigen Veränderungen unterworfen. Die Lieder darin wurden über die Jahrhunderte umgedichtet, gekürzt, verlängert, dem Zeitgeist angepasst. Manche Stücke mussten weichen, um anderen Platz zu machen.
Der Glaube ist keine Konstante
Zur Zeit der Nazi-Herrschaft etwa versuchten die Machthaber, alles Hebräische zu tilgen. "Israel" oder ein "Hosianna" wird der Gottesdienstbesucher vergeblich gesucht haben. "Der Glaube, der sich in Gesangbüchern spiegelt, ist keine Konstante. Jede Generation setzt sich das neu zusammen."
Gerade wird wieder an einem einheitlichen "Gotteslob" für die katholische Kirche gefeilt, ein Gesangbuch für den gesamten deutschsprachigen Raum – und das Mainzer Archiv feilt tüchtig mit. "Rund 3.000 Menschen sind in Deutschland daran beteiligt", erzählt Kurzke. "Es ist ein Kampf um jedes Lied. Zum Schluss wird das ein ziemlich pluralistisches Produkt. Unter unserem Einfluss kehren alte Texte zurück."
Dann greift der Literaturwissenschaftler wieder ins Regal, um von einem seiner Schätze zu erzählen. Kleinformatige Hefte gleiten aus einem grauen Schuber, den Kurzke selbst geklebt hat. "So ein katholisches Feldgesangbuch passte in die Uniformbrusttasche." Kurzke schlägt ein abgewetztes Exemplar von 1939 auf. "Hier hat jemand mit Bleistift Gebete reingeschrieben." Ein frommer Soldat also. "Ich stelle ihn mir vor Stalingrad vor." Vor dem enthaltenen Liedgut graut es den Professor. "Der Gott, der Eisen wachsen ließ, wollte keine Knechte ..."
Migration und Kirchenlieder
"Stör' ich?", fragt Prof. Dr. Ansgar Franz von der Katholisch-Theologischen Fakultät, als er seinen Kopf in Kurzkes Büro steckt. Er hat Mittagessen mitgebracht. Brötchen machen sich auf dem dunklen Seminartisch breit. Zukünftige Projekte werden zum Thema.
"Wir wollen etwas über die Migration im Europa der Weltkriege herausfinden", erzählt Franz. Er denkt insbesondere an die Menschen aus dem Osten. An die 600.000 Leute zum Beispiel, die aus Breslau weggingen. "Die Lieder in den Gesangbüchern waren ein Teil ihrer Identität." Aber was geschah mit dem Kulturgut der Breslauer Deutschen? Nahmen sie es mit in die neue Heimat, blieb etwas davon in Breslau? Was verschwand, was überlebte? Gesangbücher werden hier zu literaturgeschichtlichen Lackmusstreifen ...
Und dann sind die Brötchen verputzt. Kurzke geht wieder ans Regal. Er zieht ein Gesangbuch heraus, ein kleines schwarzes mit abgestoßenen Ecken. Er öffnet es. "Das hier ist noch interessant." Die nächste Geschichte wartet.