Das Rätsel der eisigen Tropfen

19. November 2015

Wer die Vorgänge in der Atmosphäre verstehen will, muss auch die Eisbildung in den Wolken enträtseln. Daran arbeitet die Forschergruppe INUIT, zu der die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) ihren Teil beiträgt: Im Labor des Instituts für Physik der Atmosphäre wird tröpfchenweise geforscht. Ein weltweit einmaliger Windkanal und eine spezielle Kältekammer sollen helfen, Antworten auf grundlegende Fragen zu finden.

Der Tropfen schwebt bewegungslos in der Falle. Eine Kamera ist auf ihn gerichtet, ein Sensor misst seine Infrarot-Abstrahlung und damit seine Temperatur. Im Raum herrschen minus 30 Grad Celsius. Der Tropfen mit gerade mal zwei Millimeter Durchmesser gefriert schnell in dieser Umgebung und bei minus neun Grad ist der Tiefpunkt erreicht. Dann setzt die Kristallisation ein, der Tropfen wird wieder etwas wärmer und er verformt sich.

Oliver Eppers in seiner warm gefütterten Jacke hat den kleinen Tropfen eben mit einer Spritze in die Ultraschallfalle eingebracht hat. An die hundert Mal hat er das heute schon getan. Immer hat er dieselbe Wasserprobe genutzt, die deutlich von Staubpartikeln getrübt ist. Genau diese Partikel sind es, die das Experiment so interessant und aufschlussreich machen, denn sie bestimmen die Temperatur, bei der die Tropfen gefrieren.

"Wir verstehen noch nicht genau, warum einige Partikel ein Gefrieren auslösen und andere eben nicht", erklärt Dr. Miklós Szakáll. "Was prädestiniert ein Partikel dazu? Irgendwie liegt das an den Molekülen oder an der Kristallstruktur, aber wie genau? Was wir liefern können, ist eine realitätsnahe Experimentierreihe, deren Ergebnisse in Wolkenmodelle eingebaut werden können.

Einzigartiger Windkanal

Das Labor mit seiner Kältekammer und einem Windkanal gehört zu den außergewöhnlichsten Einrichtungen auf dem Gutenberg-Campus. Prof. Hans R. Pruppacher richtete den Windkanal Mitte der 1980er-Jahre nach einem amerikanischen Vorbild ein. Das Labor leitete Dr. Subir Kumar Mitra. Der Windkanal in Amerika steht mittlerweile still, nun ist dieser hier der einzige seiner Art, der noch arbeitet. Und auch die Kältekammer, in der jener Tropfen gefriert, gibt es so wohl nur einmal.

Das Labor gehört zum Institut für Physik der Atmosphäre an der JGU. Aktuell betreut Szakáll unter der Leitung von Prof. Stephan Borrmann die Einrichtung. Eppers studiert am Institut und führt als wissenschaftliche Hilfskraft diverse Experimente in Kältekammer und Windkanal durch. Daneben arbeitet er an seiner Masterarbeit, in der es ebenfalls um Tropfen geht.

Wer das Labor in einem der Kreuzbauten am Staudingerweg betritt, wird zunächst mit einem gewissen Gefühl der Enge konfrontiert. Belüftungskanäle winden sich nicht nur an den Wänden und unter der Decke, sie sind beinahe schon allgegenwärtig. Wo Platz ist, stehen Tische mit Computern.

Der sichtbare Teil des Windkanals kommt eher unspektakulär daher. Er ist wenige Hand breit und vielleicht eineinhalb Meter hoch. Hier kann Luft mit einer Geschwindigkeit von 40 Metern pro Sekunde durchgeblasen werden. In Eppers' Masterarbeit geht es darum, Tropfen hier einzubringen und dann Partikel hinzuzufügen, um zu schauen, wann die Tropfen in eiskalter Luft gefrieren.

Ice Nuclei Research Unit

Eine Stahltreppe führt hinunter zur Kältekammer. Es wird noch etwas enger. An einer Garderobe hängen die gefütterten Jacken und die dazu passenden Hosen. "Im Hochsommer ist es manchmal ganz angenehm, in die Kammer zu gehen", sagt Eppers. "Aber wenn man dann wieder rauskommt, kann es einen schon umhauen."

Die Wasserprobe, die Eppers Tröpfchen für Tröpfchen untersucht, kommt vom Institut für Meteorologie und Klimaforschung am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Die Karlsruher sind einer der Partner in der von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) geförderten Forschergruppe INUIT, der Ice Nuclei Research Unit. Das Projekt ist umfangreich. Neben der JGU sind unter anderem die Goethe-Universität Frankfurt am Main, die Technische Universität Darmstadt und das Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz beteiligt.

Welche Partikel in der Probe enthalten sind, wissen die Mainzer nicht. Ihre Untersuchung soll unvoreingenommen geschehen. Dennoch wagt Szakáll mit Blick auf die trübe Flüssigkeit im Röhrchen eine Prognose ohne Gewähr: "Das könnte Wüstensand sein."

INUIT untersucht, welche Rolle Eiskristalle im atmosphärischen Strahlungshaushalt der Erde spielen. Dabei geht es vor allem um Mischphasenwolken, die einen großen Anteil der Bewölkung stellen. Sie bestehen aus unterkühlten Tröpfchen und aus Eispartikeln. Dass die Vorgänge in diesen Wolken Einfluss auf die Vorgänge in der Atmosphäre und damit auf das Wetter und das Klima haben, ist klar.

Besuch in der Kältekammer

Unklar ist allerdings, was genau in den Wolken passiert. "Wir wissen noch nicht wirklich, wie und wann sich das Eis in den Wolken bildet", sagt Szakáll. Deswegen verschicken die INUIT-Partner ihre Proben. An den einzelnen Instituten werden dann die verschiedensten Versuche durchgeführt, um dem Geheimnis der Tropfen auf die Spur zu kommen.

Eppers zieht eine Spritze mit der Flüssigkeit aus Karlsruhe auf. Mit gefütterter Jacke geht es dann in die Kältekammer. Die Tür ist zentimeterdick. In der winzigen Vorkammer herrschen minus zehn Grad. Sie wirkt wie eine Luftschleuse. Die eine Tür muss verschlossen werden, bevor die Tür in die richtige Kälte sich öffnet. Im Hauptraum steht neben dem Versuchsaufbau noch eine Kältebox. "Hier können wir Versuche bei minus 100 Grad machen", berichtet der Student.

Für den Tropfen reichen minus 30 Grad. Eppers muss ihn genau in die Falle setzen, sonst bleibt er nicht in der Schwebe zwischen dem Ultraschallsender unten und dem Reflektor oben. Ein kleines Fenster in der Kammer gibt den Blick frei auf einen Computermonitor. Dort kann Eppers das Bild von der Kamera sehen, unterlegt mit einem Raster. Denn es ist wichtig, dass der Tropfen die richtige Größe hat: zwei Millimeter. Daneben zeigt eine Grafik mit einer Linie aus roten Punkten die Temperatur an.

Der Tropfen kühlt runter und runter bis auf minus zehn Grad, dann gefriert er und wird wieder etwas wärmer. Das Kamerabild zeigt, dass er sich nun verformt. Es scheint, als drücke er Eiskristalle aus sich heraus. "Die Dichte von Eis ist geringer als die von Wasser, deshalb dehnt sich das Ganze aus", erklärt Szakáll. "Weil aber zuerst die Schale gefriert, bricht nun Eis durch diese Schale. Das verstehen wir. Was wir nicht verstehen, ist, wie der Prozess genau abläuft, wo auf der Partikeloberfläche das alles anfängt und wovon es abhängt, wann genau der Gefrierprozess beginnt."

Das also kann die Wissenschaft im Moment noch nicht erklären. Dieser eine Tag mit seiner Versuchsreihe ist eben nur ein winziger Baustein für ein Puzzleteil, das letztlich helfen wird, die großen Vorgänge in der Atmosphäre zu verstehen. Daran arbeitet INUIT und mit ihm die Mainzer Wissenschaftler in der Kältekammer. Tropfen für Tropfen.