Interkulturelle Patientengespräche

12. Juli 2017

Mit dem Wahlfach "Patientengespräche im interkulturellen und interdisziplinären Kontext" gehen Dozentinnen und Dozenten der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und der Universitätsmedizin Mainz neue Wege: Fachleute aus dem Bereich Fachdolmetschen, aus der Medizin und der Pharmazie haben gemeinsam ein Lehrangebot entwickelt, das deutschlandweit einmalig ist.

Die Patientin ist nervös. Vor zwei Tagen wurde sie bewusstlos in die Notaufnahme eingeliefert. Zuvor fühlte sie sich schwach, hatte ständig Durst, klagte über Bauschmerzen und Übelkeit. Bald war klar, dass die 26-Jährige unter Diabetes mellitus Typ 1 leidet. Davon ahnt sie selbst allerdings noch nichts. Heute will die Ärztin ihr die Diagnose mitteilen.

Das Problem: Die junge Frau kommt aus der Türkei, sie kann kein Deutsch. Also hat die Ärztin zur Unterstützung eine Dolmetscherin dazugeholt. Die beiden sprechen sich vor dem Gespräch mit der Patientin kurz ab. Worum soll es konkret gehen? Wie lange hat die Ärztin überhaupt Zeit? "Sie müssen bedenken, dass ein verdolmetschtes Gespräch nicht selten doppelt so lange dauert", erklärt die Dolmetscherin, nachdem sie einige medizinische Details erfahren hat. "Ich werde konsekutiv dolmetschen. Deswegen bitte ich Sie, in kurzen Sinnzusammenhängen zu reden. Dabei werde ich in der ersten Person dolmetschen. Nicht dass Sie das gleich irritiert."

Den Ernstfall proben

Dann sitzen die drei um einen Tisch. Ärztin und Patientin schauen sich an: "Wie geht es Ihnen?", beginnt die Ärztin. Die Dolmetscherin übersetzt die Frage – und gleich darauf die etwas zögerliche Antwort der Patientin: "Gerade fühle ich mich gut." Szenen ähnlicher Art spielen sich täglich in deutschen Kliniken ab. Dieses spezielle Gespräch allerdings ist gestellt: Studierende dreier sehr unterschiedlicher Fächer haben sich in der Rudolf Frey Lernklinik der Universitätsmedizin Mainz zusammengefunden, um in einer Dolmetschinszenierung den Ernstfall zu proben.

"Dies ist ein wahrlich interdisziplinäres Lehrangebot", betont Dr. Şebnem Bahadır. "Hier treffen Medizin- und Pharmaziestudierende auf Fachdolmetschstudierende, um Patientengespräche im interkulturellen Kontext einzuüben. Das ist deutschlandweit einmalig."

Translationswissenschaftlerin Bahadır ist am Arbeitsbereich Interkulturelle Germanistik des Fachbereichs Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft (FTSK) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz unter anderem für den Studienschwerpunkt "Fachdolmetschen in sozialen, medizinischen und behördlichen Einsatzbereichen" verantwortlich. Gemeinsam mit einem zehnköpfigen Team von Dozierenden leitet sie das Projekt zur Entwicklung der innovativen Lehrveranstaltung "Patientengespräche im interkulturellen und interdisziplinären Kontext".

Bedarf ist groß

Von Beginn an waren Dr. Bettina Stollhof und Dr. Rita Heeb vom Fachbereich Pharmazie mit von der Partie. Der Fachbereich Medizin ist durch den Diplom-Psychologen Kai-Uwe Strelow, Mitarbeiter der Lernklinik, vertreten. Beide sind auch an diesem Tag anwesend, für den das etwas sperrige, dafür aber präzise Thema "Die Triade im medizinischen Beratungs- und Behandlungsgespräch mit nichtdeutschsprachigen Patienten" auf der Agenda steht.

Zwei Monate zuvor hatten sich rund 80 Studierende mit dem Team in des FTSK in Germersheim getroffen, um insbesondere den theoretischen Rahmen für den Praxistag abzustecken sowie die Erwartungen und Vorstellungen zu der anstehenden interprofessionellen Zusammenarbeit auszutauschen. "Wann treffen Dolmetschstudierende schon mal auf angehende Medizin- oder Pharmaziestudierende?", wirft Stollhof ein. "Alle Beteiligten empfanden es als sehr positiv, miteinander in Kontakt zu kommen, zumal die Chancen recht groß sind, dass sie im zukünftigen Berufsleben miteinander zu tun haben." Die Gesellschaft wird bunter und der Bedarf an kompetenten Dolmetscherinnen und Dolmetschern steigt auch im medizinisch-pharmazeutischen Bereich ständig an. Das Angebot hingegen wächst leider nur langsam. "In der Praxis steht nicht immer ein Profi für die Verdolmetschung zur Verfügung", berichtet Dr. Şebnem Bahadır. "Auch für dieses Thema wollen wir mit unserer Veranstaltung sensibilisieren."

Einen Tag lang spielen sich die Studierenden durch allerlei Beratungsszenarien: Eine Apothekerin demonstriert den Insulin-Pen, ein Mediziner klärt über eine Herzerkrankung oder eine anstehende Fußoperation auf. Dolmetschstudierende schlüpfen dabei auch in die Rolle der Patientinnen und Patienten. In Kleingruppen inszenieren sie kurze Beratungsgespräche ohne lange Vorbereitung. "Wir werfen sie ins kalte Wasser", erklärt Bahadır lächelnd, "ganz wie im richtigen Leben." Nach längerer Einarbeitung beschäftigen sie sich schließlich auch mit dem Fall der jungen türkischen Diabetikerin.

Intensiver Austausch

Im Anschluss schätzen sich die Studierenden selbst ein und bekommen ein Feedback von ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen, bevor sich Strelow, Stollhof oder Bahadır zu Wort melden. Es geht um die besondere Position von Dolmetscherin oder Dolmetscher im Beratungsgespräch, aber auch um die Rolle von Ärztin oder Arzt, von Pharmazeutin oder Pharmazeut. Es geht um Details der Verdolmetschung, um Blickkontakte, um Körpersprache und Empathie und darum, das Ziel des Beratungs- oder Aufklärungsgesprächs zu erreichen. All die großen Schwierigkeiten und kleinen Tücken solcher Beratungssituationen kommen zur Sprache.

"Ich muss in so einem Gespräch besonders aufpassen, dass ich nicht den Faden verliere", meint ein Medizinstudent selbstkritisch. "Ich weiß manchmal nicht, wie ich die Fachbegriffe übersetzen soll", zweifelt eine Dolmetschstudentin. "Wie sehr muss ich ins Detail gehen?"

Für die Dolmetschinszenierungen wurde die große Teilnehmergruppe nach Sprachen unterteilt: Rund 20 Studierende sind an diesem Tag in die Rudolf Frey Lernklinik gekommen, um die Beratungsgespräche in Chinesisch-Deutsch und Türkisch-Deutsch zu üben. An drei anderen Terminen zuvor standen Arabisch, Russisch, Griechisch, Polnisch, Italienisch, Englisch und Französisch auf dem Programm.

"Im Oktober 2015 haben wir mit unserem Projekt begonnen", erzählt Bahadır. Den Anstoß gab Prof. Dr. Mechthild Dreyer, JGU-Vizepräsidentin für Studium und Lehre. Stollhof und Bahadır trafen sie bei einer Präsentation des Gutenberg Lehrkollegs (GLK). Beide stellten eigene, vom GLK geförderte innovative Lehrprojekte vor, die sich einerseits um Beratung in der Apotheke, andererseits um Dolmetschinszenierungen drehten. "Die Vizepräsidentin regte an, dass wir doch auch gemeinsam etwas machen könnten", erinnert sich Bahadır. Damit kam der Stein für das neue, vom GLK geförderte Lehrangebot ins Rollen, dem sich die Universitätsmedizin Mainz als weiterer Partner anschloss.

Fachsprachen und andere Hürden

Zu Beginn des interdisziplinären Lehrangebots mussten jedoch einige Hürden genommen werden. "Angesichts der vielen unterschiedlichen Regularien der drei Studiengänge war es schwer, alle zusammenzubringen", berichtet Stollhof. "Es gab sehr viel Organisatorisches zu klären." – "Wir sprechen in unseren Fächern ganz unterschiedliche Sprachen", ergänzt Bahadır – und meint diesmal nicht Türkisch, Chinesisch oder Arabisch. "Aber ich bin begeistert, wie gut wir uns verständigt haben, wie hervorragend der Austausch nun funktioniert. Wir sehen alle, dass wir immer professioneller werden."

In drei Durchgängen hat das Dozententeam das Wahlfach "Patientengespräche im interkulturellen und interdisziplinären Kontext" erprobt. "Dabei haben wir unser Angebot von Semester zu Semester ständig gemäß den Anregungen der Studierenden weiterentwickelt", erzählt Strelow. "Und dabei sind hervorragende Lehr- und Lernmaterialien entstanden." Die Evaluation unter den Studierenden förderte reichlich Zuspruch zu Tage.

Auch wenn die finanzielle Unterstützung durch das GLK demnächst turnusgemäß ausläuft, soll das Projekt weitergehen. "Da unser Angebot so einmalig ist, besteht vielleicht bei anderen Universitäten das Interesse, sich mit uns zu vernetzen", so Bahadır. "Zudem wollen wir unsere Kooperation auf Bereiche wie die Pflege und andere Gesundheitsberufe ausweiten. Auf jeden Fall wollen wir etwas Nachhaltiges schaffen."