Aus dem Leben eines Bundespräsidenten

10. Juli 2018

Zum Finale seiner Vorlesungsreihe "Das politische Denken. Politische Ideengeschichte und die großen Herausforderungen unserer Gegenwart in zehn Erkundungsschritten" hatte sich der 19. Inhaber der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur einen besonderen Gast nach Mainz eingeladen: Mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Dr. Joachim Gauck sprach Prof. Dr. Herfried Münkler über "Ein Leben in der/für die Politik".

Sicherheitskräfte warten an den Türen und schauen prüfend über den Strom an Gästen, der allmählich den größten Hörsaal der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) füllt. Fernsehteams und Fotografen stehen bereit, um Dr. Joachim Gauck möglichst aus jedem Winkel abzulichten. Wenn der frühere Bundespräsident auftritt, dann ist das Echo enorm.

"Sie glauben gar nicht, was der Besuch eines Bundespräsidenten an Arbeit auslöst", meint JGU-Präsident Prof. Dr. Georg Krausch. Zur offiziellen Begrüßung liegt das Goldene Buch der Universität bereit, doch bevor Gauck sich dort einträgt, erzählt Krausch ein wenig von der Bedeutung der JGU: "Sie besuchen schließlich eine Universität, die deutsche und europäische Geschichte atmet." In der jüngsten Vergangenheit konnte Krausch einige Bundespräsidenten empfangen. 2008 kam Horst Köhler, 2011 folgte Christian Wulff und im März 2018 gab sich Frank-Walter Steinmeier die Ehre. "Zwischen 2011 und 2018 mussten wir eine gewisse Lücke wahrnehmen. Man könnte sagen: Sie haben uns noch gefehlt, Herr Gauck."

Im Krieg geboren, in der DDR aufgewachsen

Prof. Dr. Herfried Münkler hatte sich den Auftritt des ehemaligen Bundespräsidenten bis zum Schluss seiner Vorlesungsreihe "Das politische Denken. Politische Ideengeschichte und die großen Herausforderungen unserer Gegenwart in zehn Erkundungsschritten" aufgespart. Mit ihm möchte der Gutenberg-Stiftungsprofessor über "Ein Leben in der/für die Politik" sprechen. Allerdings muss er seinen prominenten Gast erst mal angemessen vorstellen. "Das ist mit das Schwierigste, was ich mir in diesen zehn Vorlesungen zugemutet habe", räumt Münkler ein. Dann erzählt er von den "mindestens drei Berufsleben des Joachim Gauck".

22 Jahre lang war Gauck Pfarrer in der DDR, "in deutlicher Distanz zum Regime, aber kein Dissident". Dann spielte er bei der friedlichen Revolution, die in den Mauerfall und die Wiedervereinigung mündete, eine Rolle. "Es war die Phase, in der evangelische Pfarrer so viel Einfluss hatten wie nie zuvor und wahrscheinlich nie wieder danach." Gauck wurde Chef der Behörde zur Aufarbeitung der Stasi-Akten. Im Jahr 2000 gab er diese Aufgabe ab und trat als Vortragender und Publizist auf. "Er nannte sich selbst einen reisenden Demokratielehrer." Im März 2012 dann wurde er zum Bundespräsidenten gewählt. "Sein Amtsantritt war mit hohen Erwartungen verbunden."

Nach diesen Einleitungen tritt Gauck selbst ans Pult. "Ja, nun soll ich reden ..." Der 78-Jährige erzählt Persönliches. "Ich wurde im Krieg geboren. Ich war fünf, als das Schreckensregime der Nazis zusammenbrach." In der DDR wurde ihm das sozialistische Geschichtsmodell als Erlösung dargestellt. Er sei in einer "durchherrschten Gesellschaft", in einer "Normalität der Ohnmacht" aufgewachsen. 1989 sah das System seinem Ende entgegen. "Wir sind das Volk – heute hören wir es aus dubiosen Kehlen", sagt Gauck, "aber damals war es der schönste Satz der deutschen Demokratiegeschichte."

Deutschlands Demokratiewunder

In der Folge konstatiert er eine Teilung der Bevölkerung. Bürgersinn kam auf. Es gab jene, die in Foren gingen, die sich in politische Ämter wählen ließen, die sagten: "Endlich sind wir dran. Jetzt schreiben wir uns eine Verfassung." Sie klagten die alten Machthaber an: "Eure Ideologie hat uns nicht in lichte Höhen geführt, sondern in dunkle Keller. Wir wollen da raus." Aber es gab auch Menschen, die nicht wussten, was sie machen sollten. Frei zur Verantwortung zu sein, hatten sie nicht eingeübt." Gauck lässt keinen Zweifel daran, zu welcher Gruppe er gehört, auch wenn er Verständnis für die Verunsicherten und Orientierungslosen äußert.

"Tatsächlich hat Deutschland noch nie Zeiten wie diese erlebt." Alle Schichten profitierten, allen gehe es besser als zuvor. Nicht ein Wirtschaftswunder habe das Land zu dem gemacht, was es ist, sondern ein Demokratiewunder. Als Pfarrer habe er immer gestutzt, wenn es um jene Bibelpassage ging, die beschrieb, wie Gott den Menschen nach seinem Ebenbild schuf. Heute meint Gauck: "Menschen sind begabt, Verantwortung für sich selber und für ihre Mitmenschen zu tragen. Wo, wenn nicht da, sind wir in der Nähe dessen, der sich das ausgedacht hat?"

Im anschließenden Dialog mit Münkler dreht sich vieles um die Bürgerexistenz. Das Aufkommen der Populisten macht beiden Sorge. "Die liberale Demokratie hat einiges anzubieten", sagt Gauck. "Warum sind die, die was anzubieten haben, so zurückhaltend?" Viele seien in der Welt der Demokratie zu Hause. "Aber es ist nicht allen gegeben."

Europa ja, aber nicht mit Gewalt

Die Idee eines immer weiter zusammenwachsenden Europa sieht Gauck mit Begeisterung. Doch viele kämen bei dem Tempo und der Komplexität der Entwicklung nicht mit, sie wünschten sich Stillstand oder gar Rückschritt. In seiner allerersten Europarede als Bundespräsident habe er gesagt: "Wir brauchen keine Bedenkenträger, sondern Bannerträger." In seiner letzten Rede habe er einen anderen Schwerpunkt gesetzt: "Europa ja, aber nicht mit Gewalt und nicht mit dem Tempo der europäischen Eliten, weil wir sonst einen großen Teil der Bevölkerung verlieren."

Münkler bringt das Bild von Europa als Fahrrad ins Spiel: "Wenn man stehen bleibt, fällt es um." Das könne zum Problem werden. Er skizziert die Parteienlandschaft als den Sektor, der übersetzen muss, der einer breiten Öffentlichkeit vermitteln soll, was die Spezialisten in der Politik tun. Vor diesem Hintergrund sei das schwindende Interesse an diesem Bereich alarmierend.

Beide stellen fest, dass in Deutschland bisher schon Großes in Bezug auf die Integration von Migrantinnen und Migranten geleistet wurde. "Im Grunde sehen wir auf eine Erfolgsgeschichte zurück", sagt Gauck. "Ich stelle mir vor, all diese Lokale wären weg, all die Impulse, all die Lebensfreude." Er konstatiert aber auch Missstände. "Die Debatte darüber, was uns mit der bunten Vielfalt an Problemen zugewachsen ist, gehört nicht an die Ränder der Gesellschaft, sondern in deren Mitte."

Ein Saal voller Role Models

Es fehle an Optimismus, an politischem Engagement, an Vorbildern für jene, die zögerlich seien oder sich gar verweigerten. Gauck schaut in den vollbesetzten Saal mit seinem hohen Anteil an akademisch gebildeten Menschen: "Ich will Sie alle als Role Models sehen, die Ja sagen zu einer Bürgerexistenz."

Dies bleibt das Schlusswort zur 19. Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur – beinahe zumindest. Die Kamerateams stehen bereits in den Startlöchern. Krausch bleibt nur Zeit, sich kurz beim Altbundespräsidenten und bei Münkler zu bedanken, dann wendet er sich ans Publikum: "Ich muss Sie bitten, wirklich rasch zu gehen", meint er mit einem freundlichen Lächeln. Denn nun stehen Interviews fürs Fernsehen an. Dafür können die Besucherinnen und Besucher den Abend im Foyer mit Brezeln und einem kühlen Getränk ausklingen lassen.