"Rechter Terror ist und bleibt eine Bedrohung"

10. Oktober 2018

Über Jahre arbeitete Tanjev Schultz als Journalist bei der Süddeutschen Zeitung und begleitete dort unter anderem ausführlich den Prozess um den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund. Im Jahr 2016 folgte er einem Ruf als Professor ans Journalistische Seminar der JGU. Kürzlich hat er sein umfangreiches Buch "NSU – Der Terror von rechts und das Versagen des Staates" präsentiert.

Zehn Morde, 15 Raubüberfälle und drei Sprengstoffanschläge gehen auf das Konto des Nationalsozialistischen Untergrunds, kurz NSU. Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos haben über Jahre hinweg aus dem Verborgenen rechten Terror verbreitet. Erst spät wurden sie entlarvt. Davor und danach ging einiges schief bei den Polizeibehörden, den Verfassungsschutzämtern und der Staatsanwaltschaft. Der Mammutprozess gegen die einzige Überlebende des Trios und vier weitere mutmaßliche Helfer brachte vieles ans Licht, warf aber auch eine Unmenge von Fragen auf. Am Ende wurde Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch ein endgültiger Schlussstrich ist damit noch lange nicht gezogen.

Nun legt Prof. Dr. Tanjev Schultz vom Journalistischen Seminar der JGU sein Buch zum NSU vor. Als Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung war er nah dran an dem Fall. Er recherchierte jahrelang Hintergründe und erlebte etwa 180 der insgesamt 400 Prozesstage mit.

Langer Weg zum Buch

"Seit 2012 war klar, dass ich dieses Buch schreiben würde", erzählt er. Das war noch vor Beginn des NSU-Prozesses. Wer wie Schultz die Vorgänge intensiv journalistisch begleitete, sah sich in der Folge mit ständig neuen Enthüllungen konfrontiert. "Ich scheue mich nicht vor harten Themen, aber das war eine sehr langwierige Arbeit. Ich musste immer wieder aktualisieren und schon Geschriebenes hinterfragen. Es gab endlos viele Korrekturschleifen und zum Ende hin war es unglaublich mühsam." Nun liegt das fertige Werk auf seinem Schreibtisch: "NSU – Der Terror von rechts und das Versagen des Staates". Der gewichtige Band ist 576 Seiten stark geworden.

2016 wechselte Schultz das Metier: Er folgte dem Ruf auf eine Professur am Journalistischen Seminar der JGU und zog damit quasi direkt aus der Redaktion der Süddeutschen Zeitung in die ehrwürdige Domus universitatis, das alte Mainzer Universitätsgebäude aus dem 17. Jahrhundert. Mit ihm kam ein Lehrender an die JGU, der reichlich Praxiserfahrung mitbrachte – nicht zuletzt durch seine Berichterstattung über den NSU.

Schultz fühlt sich in beiden Welten zu Hause, der akademischen wie der journalistischen. Er studierte Philosophie, Psychologie, Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft und Germanistik an der Freien Universität Berlin, an der Fernuniversität Hagen und an der School of Journalism der Indiana University im US-amerikanischen Bloomington. An der Universität Bremen promovierte er mit der Dissertation "Geschwätz oder Diskurs? Die Rationalität politischer Talkshows im Fernsehen". Unter anderem war er an einer Studie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zu Identitäten türkischer Einwanderer beteiligt.

Schweres Thema lesbar machen

Bereits während des Studiums arbeitete er als Journalist für den SPIEGEL oder den WDR, bevor er dann als Redakteur zur Süddeutschen Zeitung ging. Mit SZ-Kollegen schrieb er Bücher über die Affäre um Karl-Theodor zu Guttenberg oder den Ku-Klux-Klan in Deutschland. Daneben aber veröffentlichte er immer auch wissenschaftliche Aufsätze in Fachzeitschriften.

"In meinem NSU-Buch schlage ich eindeutig einen journalistischen Ton an", stellt Schultz klar. "Mein Anspruch war, es möglichst lesbar zu machen. Ich wollte schon eine gewisse Spannung erzielen, damit die Leserinnen und Leser dabei bleiben. Es ist schließlich keine leichte Kost. Zugleich wollte ich alles solide und korrekt schildern. Das war eine große Aufgabe bei dieser Stofffülle."

Tatsächlich überzeugt der Band nicht nur durch klare Schilderungen und Schlussfolgerungen. Alles ist darauf ausgerichtet, den NSU-Komplex so fassbar wie möglich zu machen. Dabei helfen Karten und knapp gefasste Chroniken ebenso wie kurze Einschub-Texte zu speziellen Details und die außergewöhnlich stringente Gliederung.

Schultz beschäftigen zwei große Themenstränge: zum einen die NSU-Taten, deren Täter und Opfer, zum anderen die Pannen bei den ermittelnden Institutionen. Bereits in der Einleitung konstatiert er "ein beispielloses Versagen des Staates", das "kollektive Scheitern der Gesellschaft". Dies bleibt in der Folge nicht als bloßer Vorwurf stehen, er belegt alles minutiös.

Behördenpannen und Vorurteile

"Ich teile schon aus. Ich beschreibe unfassbare Mängel auf staatlicher, auf Behördenseite. Aber ich distanziere mich auch deutlich von den Verschwörungstheorien. Ich finde, dass hier manchmal überzogen wird. Ich versuche, seriös zu trennen zwischen dem, was wirklich war, und dem, was Spekulation bleibt. Das Ergebnis bleibt aber beschämend."

Schultz schildert, wie die Polizei von Beginn an die Täter in einem Milieu ausländischer Banden sucht. Bei Hinweisen auf rechte Gewalt winken die Beamten ab. Passend dazu nennen sie ihre Ermittlergruppen SOKO Halbmond oder BAO Bosporus. In den Medien ist bald schon von "Döner-Morden" die Rede. Rassismus und Ausländerfeindlichkeit schwingen mit. Zugleich hält der Verfassungsschutz seine hütende Hand über V-Männer in der Neonazi-Szene, die merkwürdig nah dran sind am NSU-Trio. Und dann werden, als der NSU endlich auffliegt, prompt Akten geschreddert, die möglicherweise mehr Licht ins Dunkel hätten bringen können.

"Es gibt bis heute viele Fragezeichen zum Verhalten der Behörden, aber das heißt noch lange nicht, dass alles im staatlichen Auftrag geschah", stellt Schultz klar. Er wägt die bekannten Fakten sorgfältig, ausführlich und nachvollziehbar ab. "Dadurch fühle ich mich manchmal sogar in die Rolle eines Verteidigers der Sicherheitsbehörden gedrängt. Das ist eine seltsame Konstellation, die mich nervt."

Jenseits davon kann Schultz mit den Reaktionen auf sein Buch leben. "Bisher kam eher wenig Kritik. Es passiert aber etwas Typisches: Linken Antifa-Leuten ist meine Darstellung tendenziell zu milde, konservativen Beamten dagegen zu hart. So ist das wohl, wenn man versucht, etwas differenziert zu sehen."

Von der Angst vorm Terror

Nun steht "NSU – Der Terror von rechts und das Versagen des Staates" in den Buchhandlungen – allerdings nicht bei den Bestsellern. Dort tummelt sich weit oben Thilo Sarrazins neues Werk "Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht". Trotz der jüngsten ausländerfeindlichen Übergriffe in Chemnitz, trotz der Wahlerfolge rechter Populisten schauen viele Menschen offensichtlich ängstlich hinüber zum Islam, darüber hinaus vielleicht noch in die radikale linke Ecke. Von dort fühlen sie sich bedroht, nicht von rechts.

Schultz runzelt angesichts dieser Stimmungslage die Stirn. "Ohne die Gefahr des linken oder islamischen Terrors zu verharmlosen, stelle ich fest, dass dieser Terror rein statistisch nicht die Bedrohung darstellt, als die sie von vielen gezeichnet wird. Gewalt und Terror von rechts haben in der Bundesrepublik mehr Opfer gekostet."

Speziell die Taten des NSU und die vielen offenen Fragen dazu werden alle Beteiligten noch lange beschäftigen. "Vielleicht müssen irgendwann einige Kapitel in der Geschichte des NSU und des staatlichen Versagens neu geschrieben werden. Man kann in diesem Fall wirklich nicht sicher sein. Was sich mit trauriger Gewissheit sagen lässt, ist nur dies: Rechter Terror ist und bleibt eine konkrete Bedrohung."

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