27. Juli 2012
Ethnologen der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und der Goethe-Universität Frankfurt haben in Burkina Faso und Ghana die Siedlungsgeschichte von mehr als 200 Dörfern, die zuvor lediglich mündlich tradiert worden war, umfassend erhoben. Die Ergebnisse haben die Wissenschaftler nun an das Nationalarchiv von Burkina Faso übergeben. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zur dauerhaften Bewahrung kulturellen Erbes.
"Leider haben wir von der Übergabezeremonie keine Bilder", sagt Prof. Dr. Carola Lentz bedauernd. "Die burkinischen Zeitungsberichte sind unbrauchbar in Sachen Fotos." Sie deutet auf einen Artikel und ein verpixeltes Bild, das gerade mal die Umrisse zweier Männer erahnen lässt. Ende Juni hat Dr. Richard Kuba vom Frobenius-Institut der Frankfurter Goethe-Universität dem Nationalarchiv von Burkina Faso in der Hauptstadt Ouagadougou sechs umfangreiche Bände zur Siedlungsgeschichte im Nordwesten Ghanas und Südwesten Burkina Fasos überreicht.
Die Sammlung ist die erste in einem solchen Umfang und stellt daher ein einmaliges Archiv dar. "Wir haben durch die Verschriftlichung einen wertvollen Fundus geschaffen", konstatiert Lentz, stellt aber gleichzeitig klar: "Es ist jedoch kein Wissen, das es ohne uns nicht geben würde."
Orales Grundbuch
Lentz, die 2002 von der Goethe-Universität Frankfurt an das Institut für Ethnologie und Afrikastudien der JGU wechselte, hat das Projekt zur Siedlungsgeschichte geleitet. Es war Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Sonderforschungsbereichs (SFB) "Kulturentwicklung und Sprachgeschichte im Naturraum westafrikanischer Savanne" der Goethe-Universität. Lentz und das Projektteam sowie mehrere Gruppen von Studierenden, die dabei ihre ersten Feldforschungserfahrungen sammelten, haben im Lauf der Jahre in der Grenzregion von Burkina Faso und Ghana zahlreiche Menschen zu Siedlungsgeschichte, Bodenrechten und politischer Geschichte interviewt. Zur vorkolonialen Historie dieser Region gab es bislang keine schriftlichen Quellen; auch die jetzigen Entwicklungen sind nur in spärlichem Umfang schriftlich festgehalten. Lentz und ihr Team haben zu Papier gebracht, was vorher lediglich seit Generationen mündlich weitergeben, aber auch sich ändernden Erfordernissen entsprechend immer wieder neu "erfunden" worden war.
In den Dörfern existieren keine Grundbücher. Das mag aus europäischer Sicht vielleicht ein wenig befremdlich wirken, hat aber in afrikanischen Siedlungen lange Tradition. "Siedlungsgeschichte und die Begründung von Bodenrechten durch Erzählungen über die Zuwanderung der Ahnen funktionieren als eine Art orales Grundbuch", sagt Lentz. Erzählungen über die Vorfahren, von deren Besitz man seine heutigen Bodenrechte herleitet, wurden immer weitergegeben.
Mutige Jäger und erhabene Erdherren
Diesen Erzählungen haben die Forscher in über 200 Dörfern gelauscht. Mit Hilfe von Übersetzern und lokalen Forschungsassistenten haben sie über 800 Interviews mit Dorfältesten, Erdherren und Häuptlingen in sechs verschiedenen afrikanischen Sprachen aufgezeichnet, ins Französische oder Englische übersetzt und niedergeschrieben. Lentz und ihre Mitforscher sind dabei von den Einheimischen immer freundlich aufgenommen worden. "Die Leute waren sehr engagiert und fanden das gut und wichtig, was wir machen", sagt sie und ergänzt: "Die Interviews wurden oft zu regelrechten öffentlichen Versammlungen, bei denen die Jungen den Alten zuhörten."
Bei der Begründung der Bodenrechte spielt die Figur des Jägers eine zentrale Rolle. Er steht oft am Anfang der Tradition, ein unerschrockener Kulturheld, der es wagt, in neue Gebiete vorzudringen, fruchtbares Land entdeckt und so zum ersten Siedler wird. Das Recht dazu erhält er von den lokalen Gottheiten der Erde oder der Wildnis, mit denen er einen Pakt schließt. Die Erdherren der Dörfer – sie bringen den Erdgottheiten Opfer dar für Fruchtbarkeit – leiten ihr Amt von jenem ersten Siedler ab und haben daher privilegierte Eigentumsrechte.
Konfliktlösung durch Geschichten
Doch so einfach, wie das in den Erzählungen klingen mag, ist es oft nicht. "Fragen Sie drei verschiedene Familien und Sie haben drei konträre Geschichten“, so Lentz. Das Zuerstkommen spielt immer die zentrale Rolle und eine Verbindung zu den Gründern ist wichtig für die Begründung der aktuellen Rechte.
Doch was genau macht das Zuerstkommen aus? Zuerst das Land betreten, zuerst gefischt oder zuerst ein Haus gebaut zu haben? Bei so vielen verschiedenen Sichtweisen gibt es oft Konflikte über Gemarkungs- und Grundstücksgrenzen oder den Umfang der Verfügungsrechte über Land. "Dann wird immer Narratives hervorgeholt, denn am Ende muss durch gute Geschichten ein Konsens hergestellt werden", sagt Lentz. Manchmal jedoch lasse man Konflikte auch ruhen und dulde einfach, dass jemand Land weiter bearbeitet, obwohl er angeblich nicht wirklich das Recht dazu hat.
Goldrausch und Buschpisten
Die Forschungen brachten nicht nur Interessantes zutage, sie waren auch erlebnisreich. "Wir sind manchmal unter abenteuerlichen Bedingungen in die Dörfer gefahren", erinnert sich Lentz schmunzelnd. Auf schmalen Pisten ging es mit dem Mofa durchs Buschland. Vor allem auf dem Rückweg wurde es so richtig gemütlich auf dem Gefährt: "Der Übersetzer hinten drauf, zusätzlich noch der Rekorder plus Tapes und rechts und links Hühner." Die waren ein Gastgeschenk der Dorfbewohner.
Dr. Katja Werthmann, eine von Lentz' damaligen Mitarbeitern, hat im Rahmen des Projekts habilitiert. Sie modifizierte unverhofft ihr Habilitationsthema. In den Dörfern, in denen sie forschte, wurde während ihres Aufenthaltes Gold gefunden. Innerhalb von zwei Wochen waren über 10.000 Goldsucher da. Werthmann schrieb ihre Habilitationsschrift über diesen Goldrausch und die Frage, wie Bodenrechte und lokale Identitäten hier neu ausgehandelt wurden. Ab Herbst 2012 ist sie Professorin in Leipzig.
6.000 Seiten finden den Weg nach Burkina Faso
Zwischen 1997 und 2002 führten die Ethnologen ihre Interviews durch. Zehn Jahre nach Ende der Projektlaufzeit ist die Zusammenstellung des gesammelten Wissens nun vollendet. Und wird für wissenschaftliche Zwecke zugänglich sein. "Es passiert viel zu selten, dass Wissenschaftler afrikanische Geschichte erforschen und nicht nur ihre wissenschaftlichen Interpretationen, sondern auch die Forschungsmaterialien selbst zur Verfügung stellen", findet Lentz. "Wir haben uns entschlossen, auch das Originalmaterial bereitzustellen, weil es Teil des immateriellen kulturellen Erbes ist", sagt sie.
Die Forscher haben sich bewusst dafür entschieden, bei dieser Bereitstellung keine digitalen Formate zu verwenden, hauptsächlich aus datenschutztechnischen und rechtlichen Gründen. So fanden also 6.000 bedruckte Seiten mit Mitschriften, Transkriptionen und Übersetzungen den Weg nach Burkina Faso. Ein Teil orale Geschichte ist nun dokumentiert und wird dauerhaft bewahrt. Weitere Exemplare der Dokumentation werden im Institute of African Studies der University of Ghana, Legon, und in der Africana-Sammlung der Melville Herskovits Library der Northwestern University, Evanston (USA) archiviert sowie in der Bibliothek des Frobenius-Instituts der Goethe-Universität und selbstverständlich der Bibliothek des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien der JGU.
Auch wenn das Projekt abgeschlossen ist, lässt Lentz die Thematik keinesfalls ruhen. Momentan arbeitet sie an der Fertigstellung eines Buchs mit dem Titel Mobility, Land and Belonging in West Africa. Es wird im Frühjahr 2013 bei der Indiana University Press erscheinen. Ein weiteres Zeugnis westafrikanischer Siedlungsgeschichte.