8. Mai 2018
Die Medizin steht vor einer Revolution: Digitale Techniken werden sie nachhaltig verändern. Auf die Ärzteschaft kommen Herausforderungen zu, für die sie bisher kaum gewappnet ist. Dieses Thema beschäftigt PD Dr. Sebastian Kuhn, Oberarzt am Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Er hat ein erstes Lehrformat entwickelt, das Studierende auf die Digitalisierung in der Medizin vorbereitet.
"Digitalisierung verändert unser aller Berufswelt", konstatiert PD Dr. Sebastian Kuhn. "Die Medizin betrifft das ganz besonders. Sie wird sich in jeder Hinsicht wandeln. Deswegen brauchen wir eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Thema Digitalisierung."
Kuhn hat die Wände seines Büros im Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Plakaten behängt. Eines zeigt grob skizziert einen Arzt und dessen Patienten. Bunt und detailliert dargestellt ist die digitale Uhr am Handgelenk jenes Patienten. Der Arzt hält ein ebenso farbiges Smartphone, auf dessen Display allerlei medizinische Messergebnisse erscheinen. "Es gibt längst Geräte, Smart Devices, die zum Beispiel Herzrhythmusstörungen diagnostizieren können", sagt Kuhn. "Der zuständige Arzt kann die Ergebnisse direkt abrufen. Diese Verfahrensweise ist den bisherigen Screening-Methoden weit überlegen."
Digitale Transformation
Auf einem zweiten Poster ist eine Menschenmenge zu erkennen. Binäre Datensätze, symbolisiert durch die Zahlen 0 und 1, winden sich wie Girlanden nach oben, wo sie in einer großen Wolke verschwinden. Die Menschen schauen hinauf: manche misstrauisch, manche ängstlich, andere hoffnungsfroh lächelnd. "Unsere Daten wandern in die Cloud", erläutert Kuhn. "Was dort mit ihnen passiert, wissen wir häufig nicht sicher. Die moderne Medizin verspricht: Gib uns deine Daten und wir bieten dir eine individuell auf dich abgestimmte Medizin. Können wir dieses Versprechen wirklich halten?"
Seit rund zwei Jahren beschäftigt sich der Oberarzt für Orthopädie und Unfallchirurgie an der Universitätsmedizin Mainz intensiv mit solchen und anderen Aspekten der Digitalisierung in der Medizin. "Ich stehe mittlerweile nur noch zwei Tage die Woche im OP. Ich habe meine Stelle reduziert, um mich intensiv zu vernetzen und Projekte voranzutreiben."
"Ich habe mich ein Stück weit herausgenommen, um ein Bewusstsein für den Veränderungsprozess zu schaffen. Ich konzentriere mich dabei besonders auf die Schnittmenge zwischen Medizin, Digitalisierung und Bildung. Diese Kombination finden Sie sonst nicht, das war bisher ein weißer Fleck in der Landschaft. Dabei ist es ein zentrales Thema. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die neue Medizin qualifizieren können, denn die digitale Transformation wird kommen, ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen."
Studierende aktivieren
Mögliche Antworten gab Kuhn im Mai 2017 in dem einwöchigen Wahlpflichtfach "Medizin im digitalen Zeitalter", das er zu dieser Zeit erstmals für Studierende der Universitätsmedizin Mainz anbot. Es ging um digitale Arzt-Patienten-Kommunikation, medizinische Apps, Computer-assistierte Chirurgie, Big Data, Künstliche Intelligenz und einiges mehr. Der Arzt holte sich Unterstützung, um möglichst viele Sichtweisen präsentieren zu können. "Unter anderem waren ein Informatiker, ein Datenschützer und eine Medizinethikerin dabei."
Die Woche war als Blended-Learning-Format gestaltet. Digitale und analoge Komponenten ergänzten sich. "Das basale Wissen konnten sich die Studierenden gut vorab per E-Learning aneignen, um dann im Unterricht damit interagieren zu können", erläutert Kuhn sein Vorgehen in der universitären Lehre. "Mir geht es darum, die Studierenden in eine aktive Rolle zu bringen. Im Unterricht erlernen sie konkrete Fertigkeiten und diskutieren über einen Problemkomplex, um sich am Ende über die eigene Haltung klar zu werden."
Die Studierenden wählten Kuhn in der Folge zum Lehrpreisträger der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Sommersemester 2017. In einer Befragung zu seiner Lehrveranstaltung lobten sie: "Blickt über den Tellerrand. Großartige Wahlpflichtwoche". Sie hoben den "Weitblick auf das Thema" hervor, "die herausragende Präsentation und die Verknüpfung von gesellschaftlichen und medizinischen Aspekten".
Vorreiterrolle nutzen
Dies war Kuhns erster umfassender Versuch, digitale Medizin im Curriculum zu verankern. Auf diesem Weg soll es nun weitergehen. Vielerorts hat er bereits Aufsehen erregt. Unter anderem wird er beim Hochschulforum Digitalisierung sprechen, einer nationalen Plattform, die Fachleuten verschiedenster Couleur die Gelegenheit gibt, die vielfältigen Einflüsse der Digitalisierung auf Hochschulen und Hochschullehre genauer zu betrachten. Dort geht es um die Umsetzung neuer Hochschulstrategien und um die Entwicklung frischer Ideen – vor allem für die Lehre. Initiiert wurde das Forum vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, von der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und dem Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ist als Förderer involviert.
"Wir müssen die gesamte Ärzteschaft dringend für den Wandel qualifizieren", mahnt Kuhn. Im Gespräch darüber ist er bis auf Ministerebene vorgedrungen, wo erste Weichen für ein Fortbildungs-Curriculum gestellt werden. Das würde rund 400.000 Ärztinnen und Ärzte bundesweit betreffen. Auch sonst ist er mit seinen Ansätzen sehr gefragt. Die Charité möchte ihn für einen Workshop nach Berlin holen, er ist auf internationalen Tagungen eingeladen und seine Beiträge zur Medizin im digitalen Zeitalter sind nicht nur in vielen einschlägigen Fachveröffentlichungen nachzulesen, auch Fernsehsender und große Nachrichtenmagazine interessieren sich für seine Position.
"Im Moment nimmt das gewaltige Dimensionen an", erzählt Kuhn. "Meine Arbeit hat ein ungeheures Interesse ausgelöst. Zunächst war ich der Einzige, der zu diesem Bereich arbeitete. Diese Vorreiterrolle will ich nutzen. In einem Jahr gibt es womöglich schon zehn Spezialisten dazu."
Filetierte Medizin?
Kuhn ist bewusst, dass die Zeit drängt. Schließlich ist die Ära der digitalen Medizin bereits eingeläutet. "In Großbritannien zum Beispiel bekommen depressive Menschen statt Medikamenten erst mal eine App, mit der sie sich unterhalten können, die ihnen Tipps gibt und sie bei der Selbstreflexion unterstützt. Das ist schon jetzt Realität, auch wenn es für viele noch nach Science Fiction klingt."
Die Ärzteschaft, das medizinische Personal und die Studierenden müssen fit gemacht werden für die digitale Medizin. Hochschulen und Kliniken sollten dabei eine führende Rolle übernehmen, meint Kuhn. "Wenn wir es nicht machen, tun es die großen Konzerne", warnt er. "Sie filetieren die Medizin, suchen sich die Bereiche heraus, mit denen sie Gewinn machen können und lassen uns auf dem Rest sitzen." Mit diesem Rest will er sich nicht zufrieden geben. Lieber will er schon jetzt mitgestalten.