19. Juli 2013
Sie mimen den amtsmüden Pauker, den aufsässigen Pennäler oder die engagierte Pädagogin: 80 Lehramtsstudierende sind im Psychologischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) zusammengekommen, um am "Planspiel Schulalltag" teilzunehmen. Prof. Dr. Margarete Imhof hat dieses einzigartige Projekt nach Mainz geholt, wo es auch in Zukunft Schule machen soll.
"Es ist wirklich schwer vorstellbar, wenn Sie es nicht selbst erlebt haben", so Imhof und hievt einen großen, silbern schimmernden Metallkoffer auf ihren Schreibtisch. "Hier ist alles drin." Zwei Schlösser klacken, der Deckel hebt sich ...
80 Lehramtsstudierende wagten sich am Psychologischen Institut der JGU an das "Planspiel Schulalltag". Sie schlüpften in die Rolle der durchgeknallten Kunstlehrerin und ihres Kollegen, der nur noch den nahenden Ruhestand im Blick hat. Sie spielten eine Zwölfjährige, die sauer ist, weil sie am Samstag nicht auf eine Party durfte, oder den Schüler, der neulich erst aus Berlin in die Provinz gezogen ist und dem die neue Umgebung, die neue Klasse und die Mitschüler gewaltig auf die Nerven gehen.
Der Koffer enthält Klassenbücher und Unterrichtshilfen, T-Shirts mit der Aufschrift "Beobachter" und jede Menge weiteres Material. "Zu Beginn der Simulation bekam jeder Studierende einen Umschlag", erzählt Prof. Dr. Margarete Imhof. Vierzig dieser Umschläge bietet der Koffer insgesamt. Sie enthalten die Rollenanweisungen: Sechs Lehrerstellen und ein Schulleiterposten sind zu besetzen. Daneben gibt es die 33 Schüler der Klasse 8a.
Ein Schultag in der 8a
Einerseits ist alles genau ausgearbeitet und aufeinander abgestimmt. So enthält der Umschlag für die Deutschlehrerin oder den Deutschlehrer namens S. Müller neben einer Charakterskizze und einem Stundenplan das Goethe-Gedicht "Willkommen und Abschied" in 33-facher Ausfertigung. Es soll Gegenstand im Unterricht sein.
Andererseits lassen die Rollen durchaus Freiheiten: Sie bieten quasi Startpositionen fürs Spiel. "Sie sind ein aufmüpfiger Schüler und zweimal durchgefallen", steht dort unter anderem. "Sie haben keine Lust am Unterricht."
Prof. Dr. Ulrike Starker vom Lehrstuhl für Empirische Bildungsforschung der Otto-Friedrich-Universität Bamberg hat dieses Planspiel gemeinsam mit ihrem Team ausgearbeitet – und Prof. Dr. Margarete Imhof von der Abteilung Psychologie in den Bildungswissenschaften des Psychologischen Instituts der JGU hat sie nach Mainz eingeladen, um das Spiel anzuleiten und zu begleiten. Je 40 Lehramtsstudierende simulierten an zwei Terminen einen Schultag der 8a – und damit den Schulalltag mit all seinen Details.
"Das hat noch nie einer gemacht", erzählt Imhof. "Sicher, wir arbeiten in unseren Seminaren auch mit Rollenspielen, aber nie in diesem Umfang." Sie hatte von dem Pilotprojekt durchaus einiges erwartet. "Man sitzt wirklich da und fragt sich, warum noch niemand auf diese Idee gekommen ist. Überall werden doch Rollenspiele angewendet. Warum nicht im Bereich Schule?"
Dynamik im Klassenzimmer
Die Simulation sollte so authentisch wie möglich ablaufen. Das ging bis in die Pause zwischen den Unterrichtsstunden. Im Psychologischen Institut wurde alles dafür hergerichtet. Es gab sogar ein Schild vor dem Pausenraum: "Handys verboten!". Die frischgebackenen Lehrer übernahmen die Aufsicht.
"Es ging um die Dynamik im Klassenzimmer. Darüber kann man tagelang reden, aber es ist etwas völlig anderes, wenn man es dann selbst erlebt", erläutert Imhof. "Einige Studierende haben sich als Lehrer zum Beispiel ganz eng an die vorgegebenen Sitzordnungen in ihren Planspielunterlagen gehalten. Danach haben wir gefragt: Warum habt ihr nicht einfach einen Stuhlkreis gebildet, wenn es passte?"
"Man neigt schnell dazu, bequem zu sein und das Vorgegebene zu übernehmen. Gleichzeitig würde wohl jeder Lehramtsstudierende, den sie darauf ansprechen, sagen: Klar, ich will meinen Unterricht kreativ gestalten. Nach unserem Planspiel muss ich dazu gar nichts mehr erklären. Die Studierenden wissen ja, was passiert ist", so Imhof.
Erleben statt erzählen
Zweimal fand das "Planspiel Schulalltag" im Psychologischen Institut der JGU bereits statt. "Und jedes Mal lief es völlig anders ab", erzählt die Mainzer Professorin. Mitarbeiter von Starker fungierten als Beobachter und konnten – wenn nötig – lenkend eingreifen. "Aber das war kaum der Fall. Einmal wurde der Schulleiter in eine Klasse geschickt, um die Situation etwas zu beleben. Letztlich hat dieser dann aber den Unterricht gestört", erinnert sich Prof. Dr. Margarete Imhof.
Natürlich ist das Spiel eingebettet in Reflexionsrunden. "Bevor der Tag der eigentlichen Simulation kam, hatten wir einen Tag zur Einführung und Anleitung. Die Studierenden hatten Berichte abgegeben, in denen sie problematische Szenen aus ihren Praktika oder auch Szenen aus ihrer eigenen Schulzeit beschrieben", berichtet Imhof. Auf dieser Grundlage wurde über emotionale Dynamiken in der Schule gesprochen, der Unterricht als komplexe Aufgabe theoretisch betrachtet.
Dann ging es einen Vormittag lang ins Planspiel. Die sich hier wie natürlich ergebenden Situationen und der daraus resultierende Gesprächsstoff übertrafen die theoretischen Szenarien und Erwartungen bei Weitem. "Das Tolle war, dass wir als Lehrende gar nicht mehr viel erzählen mussten. Die Studierenden hatten alles selbst erlebt", lobt Imhof. So hatten sie hautnah erlebt, dass das Lehrersein eine Rolle ist, die sie ausfüllen müssen, und der Unterricht eine Inszenierung, die Regie braucht.
Das Spiel geht weiter
Starker und ihr Team sind längst wieder in Bamberg. Doch der Metallkoffer mit dem Planspiel ist in Mainz geblieben. Imhof brennt darauf, ihn weiterhin einzusetzen: "Ich habe da schon Ideen. Wir könnten beispielsweise einen behinderten Schüler einbauen." Mit der geplanten Inklusion von Kindern mit Handicap in reguläre Schulklassen kommen auf die Pädagogen schließlich neue Herausforderungen zu. Das ließe sich simulieren.
"Darauf müssen wir uns am Institut gut vorbereiten", so Prof. Dr. Margarete Imhof. Tutoren sollen für ihre Rolle als Beobachter geschult werden. Und die Reflexion nach dem Schulalltag fordert die Psychologen. "Da können wir nicht mit vorgefertigten Inhalten kommen. Jede Simulation entwickelt sich schließlich anders."
Tatsächlich erfordert das "Planspiel Schulalltag" einigen Aufwand, aber angesichts der ersten beiden Durchgänge hält Imhof den für mehr als berechtigt. "Ich würde das Planspiel gern recht früh bei den Lehramtsstudierenden einsetzen. Ich würde es auch gern mit Lehrern ausprobieren."
Imhof packt die Umschläge ein, die Klassenbücher, die Beobachter-T-Shirts. Der Deckel schließt sich, die Schlösser klacken. Doch lange wird dieser Koffer nicht geschlossen bleiben. Dafür wird sie sorgen.